Romananfang 8 – Kate Grenville “The Secret River”
So beginnt das Buch Der verborgene Fluss der australischen Autorin Kate Grenville. Es erzählt die Lebensgeschichte von William Thornhill, der 1806 als Strafgefangener, als so genannter convict, mit seiner Frau Sal nach Australien kam und dort nach Verbüßung seiner Strafe Land am Hawkesbury River in der Nähe von Sydney erwarb und schließlich als reicher Siedler starb.
Grenville erzählt die Geschichte Thornhills, aber auch die Geschichte Australiens, mit ihren Widersprüchen und Ambivalenzen: dem fremden Land, das sich die convicts und die Siedler allmählich zu eigen machen, dem gesellschaftlichen Aufstieg von Strafgefangenen zu reichen Siedlern und der Vertreibung und Verfolgung der Aborigines, der australischen Ureinwohner.
Geschichtlicher Hintergrund
Am 26. Januar 1788 landeten die ersten Strafgefangenen, die England nach Australien deportieren wollte, in Sydney Cove, in einer Bucht in der Nähe des heutigen Sydney. Sie kamen mit der First Fleet, einer Gruppe von elf Schiffen unter dem Kommando von Sir Arthur Philipp, die am 13. Mai 1787 von Portsmouth aus in See gestochen waren und insgesamt 756 Strafgefangene und 550 Besatzungsmitglieder an Bord hatten. Der jüngste Strafgefangene war 13 Jahre alt, die älteste Strafgefangene 70.
England hatte die Besiedelung Australiens als Strafkolonie beschlossen, weil die Gefängnisse in England aus allen Nähten platzten und man die Häftlinge nach Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs 1775 nicht mehr in die amerikanischen Kolonien schicken konnte. Auf der Suche nach einer Alternative erinnerten sich englische Politiker an Australien, den Kontinent am anderen Ende der Welt, den James Cook bei seinen Reisen „entdeckt“ und im Juni 1770 für die englische Krone in Besitz genommen hatte.
Aus heutiger Sicht war die Verbannung ans andere Ende der Welt eine drakonische Strafe. Selbst für kleinere Vergehen wie Lebensmitteldiebstahl konnte man für sieben oder 14 Jahre oder lebenslänglich – For the Term of One’s Natural Life – in die Strafkolonie nach New South Wales geschickt werden. In der Verbannung mussten die Sträflinge unter harten Bedingungen arbeiten, um das Land nutzbar zu machen. Wer nicht gehorchte, der wurde hart bestraft, oft mit öffentlicher Auspeitschung. Doch trotz aller Härten bot die Deportation den Sträflingen, die oft aus Armut und nackter Verzweiflung kriminell geworden waren, oft auch eine Chance auf ein besseres Leben – eine Chance, die sie in England nicht bekommen hätten.
Das Buch Der verborgene Fluss
William Thornhill, die Hauptfigur in Der verborgene Fluss, ist ein Beispiel dafür. Er wächst in London in großer Armut auf, arbeitet als Bootsmann auf der Themse und wird nach einem Holzdiebstahl zum Tode verurteilt, ein Urteil, das anschließend zu lebenslänglicher Verbannung nach New South Wales reduziert wird. Und Thornhill darf seine Frau Sal und ihr gemeinsames Kind mit in die Verbannung nehmen. Dort beschäftigt Sal ihren Mann als Arbeiter – eine Praxis, die damals in der Strafkolonie durchaus üblich war.
Schon bald bekommt Thornhill wegen guter Führung ein so genanntes Ticket of Leave und kann selber Land erwerben und bewirtschaften. So verwandelt er sich von einem armen Bootsmann in London erst in einen Sträfling, dann in einen Grundbesitzer und schließlich in einen angesehenen und reichen Siedler.
Doch glücklich wird er nicht. Er entzweit sich mit seinem Sohn, der dagegen protestiert, wie sein Vater die Aborigines behandelt, und er streitet sich mit seiner Frau Sal, die in der Kolonie unglücklich ist und ihr Leben lang vergeblich von einer Rückkehr nach England träumt.
Zentrale Motive des Romans sind die australische Geschichte, die Vergangenheit Australiens als englische Kolonie, australische Identität und vor allem die Vertreibung und Verfolgung der Aborigines durch die Siedler, die den Kontinent Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle bringen.
Wie wichtig dieses Thema für Grenville ist, schildert sie in ihrem Buch Searching for the Secret River, in dem sie die Entstehungsgeschichte von Der verborgene Fluss (der englische Originaltitel lautet The Secret River) beschreibt. Vorbild für die Figur von William Thornhill war Grenvilles Ur-Ur-Ur-Großvater Solomon Wiseman, die Idee für ihren Roman und den Anstoß für die Erforschung der Lebensgeschichte ihres Vorfahren bekam Grenville durch eine zufällige Begegnung mit einer Aborigine auf der Sydney Harbour Bridge im Mai 2000, bei einer Veranstaltung zum Reconciliation Day, dem Tag der Versöhnung zwischen Aborigines und weißen Australiern.
Am südlichen Ende der Brücke, sah ich eine Gruppe von Aborigines, die sich gegen die Brüstung lehnten und uns beobachteten. … Am Ende der Reihe schaute uns eine große, gut aussehende Frau offen an, so als ob sie sich jedes Gesicht einprägen wollte. Unsere Blicke trafen sich und wir teilten einen dieser intensiven Momente – einen Impuls der Verbundenheit. … Die Vorfahren die Frau waren schon seit langer Zeit in Australien gewesen. Nach aktuellen Berechnungen 60.000 Jahre. Ihre Vorfahren haben vielleicht an den Küsten von Sydney gelebt, als die First Fleet angekommen war. … Ich wusste, dass mein Vorfahr auch dort gewesen war. … Und was, wenn mein Ur-Ur-Ur-Großvater aufgeschaut hätte und ihren Ur-Ur-Ur-Großvater gesehen hätte, wie er auf einem Felsen stand und die Neuankömmlinge beobachtete? … In diesem Moment, in dem ich meinen eigenen Vorfahren mit dem Vorfahren dieser Frau zusammenbrachte, drehte sich alles: das Land, der Ort, mein Gefühl für mich selbst darin. … Ich musste unbedingt mehr über diesen Ur-Ur-Ur-Großvater von mir herausfinden. Ich musste wissen, wie er war und was er getan haben könnte, als sich seine Wege mit denen von Aborigines gekreuzt haben. (Kate Grenville, Searching for the Secret River, The Text Publishing Company 2006, S. 12-13)
Also machte sich Grenville auf die Suche nach der Geschichte ihres Vorfahren, Solomon Wiseman. Aus dem, was sie über seine Geschichte, die Geschichte der convicts, die Besiedlung Australiens durch die Engländer und die Vertreibung der Aborigines von ihrem Land herausgefunden hat, entstand Der verborgene Fluss. Das Buch erschien 2005, war ein großer Erfolg und gewann zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Die deutsche Übersetzung erschien 2006.
Kate Grenville, Der verborgene Fluss, 2006
Die Praxis, Strafgefangene von England nach Australien zu schicken, endete erst 1868. Schätzungen zufolge wurden in den 80 Jahren von 1788 bis 1868 etwa 160.000 Strafgefangene von England nach Australien deportiert.
Über die Autorin
Kate Grenville wurde am 14. Oktober 1950 in Sydney geboren und zählt zu den bekanntesten und renommiertesten australischen Autorinnen. Auf Ahnenforschung begab sie sich auch mit ihrem 2015 erschienenen Buch One Life: The Story of My Mother, einer Biographie ihrer 1912 geborenen Mutter, in der Grenville anhand der scheinbar unspektakulären Lebensgeschichte ihrer Mutter die Verhältnisse im damaligen Australien (und in der Welt) schildert. Für mich eines der interessantesten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Kate Grenville, One Life: My Mother’s Story, 2015
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