Das moderne Leben ist unübersichtlich, Lebensratgeber haben Konjunktur. Sie verraten – oder versprechen das – wie man das Leben und die Liebe vereinfacht, den richtigen Partner oder die richtige Partnerin findet, Kinder erzieht, Freunde gewinnt, Millionär und glücklich wird oder, bescheidener, einfach nur Wege aus der Krise findet. Lebensratgeber im alten China waren die 36 Strategeme, die lange Zeit allerdings nur einem kleinen Kreis von Leuten zugänglich war. Diese 36 Strategeme geben universelle Tipps, um in allen Lebenslagen Erfolg zu haben. Auch Schachspielern können sie helfen.
Zum Beispiel erinnert Strategem Nr. 15, „Den Tiger vom Berg in die Ebene locken“, daran, dass die eigenen Erfolgschancen steigen, wenn man den Gegner auf unvertrautes Terrain lockt. Im Schach könnte das bedeuten, Eröffnungen zu spielen, die der Gegner nicht mag, oder Stellungen anzustreben, die ihm nicht liegen. Aber leicht ist das nicht, denn der geschickte Gegner verfolgt wahrscheinlich die gleiche Strategie. Weshalb man ihn locken muss, damit er, um einen Lieblingsausdruck moderner Lebensratgeber zu verwenden, seine „Komfortzone“ verlässt. Wie das funktionieren kann, zeigt der Weltmeisterschaftskampf 1960 zwischen Mikhail Tal und Mikhail Botvinnik, ein Kampf zweier gegensätzlicher Charaktere, im Leben und auf dem Schachbrett.
Botvinnik rauchte nicht, trank selten, vor wichtigen Turnieren nie, machte jeden Morgen Übungen, um gesund und beweglich zu bleiben, spielte nur wenig Turniere und niemals Blitz. Er war prinzipientreu bis zum Fanatismus, misstrauisch bis zur Paranoia und hatte wenig Freunde. Im Schach suchte er nach Klarheit und Prinzipien und vertraute auf Logik und Rationalität.
Mikhail Botvinnik
Tal rauchte zwei, drei oder mehr Schachteln Zigaretten am Tag, war nach einer medizinischen Behandlung zeitweilig morphiumsüchtig, trank exzessiv Alkohol, spielte nächtelang Blitzpartien und war allseits beliebt und geschätzt. Im Schach suchte er nach versteckten taktischen Möglichkeiten und liebte das Irrationale. Seine kühnen, objektiv nicht immer korrekten, Opfer begeistern und verblüffen noch immer.
Mikhail Tal
1960 hatte sich Tal nach einer Reihe von Aufsehen erregenden Erfolgen für den Weltmeisterschaftskampf gegen Botvinnik qualifiziert. Tal gewann den Wettkampf, der vom 15. März bis zum 7. Mai in Moskau gespielt wurde, mit 12,5-8,5, unter anderem deshalb, weil es ihm immer wieder gelang, Stellungen herbeizuführen, in denen sich Botvinnik nicht wohl fühlte. Besonders deutlich wird das in der 17. Partie des Wettkampfs, über die Tal in seinem Buch über den Wettkampf schreibt: „Meiner Ansicht nach zeigt die 17. Partie M. Botvinniks Stil, das heißt, sein grandioses Schachkönnen, sehr genau, aber sie zeigt auch eine der grundlegenden Ursachen für M. Botvinniks Scheitern in diesem Wettkampf.“ (Mikhail Tal, Tal-Botvinnik, Match for the World Chess Championship 1960 , RHM Press 1977, S. 141)
[Event "World-ch22 Tal-Botvinnik +6-2=13"]
[Site "Moscow"]
[Date "1960.04.26"]
[Round "17"]
[White "Tal, Mihail"]
[Black "Botvinnik, Mikhail"]
[Result "1-0"]
[ECO "B18"]
[Annotator "Johannes Fischer"]
[PlyCount "81"]
[EventDate "1960.03.15"]
[EventType "match"]
[EventRounds "21"]
[EventCountry "URS"]
[Source "ChessBase"]
[SourceDate "1999.07.01"]
[SourceVersion "2"]
[SourceVersionDate "1999.07.01"]
[SourceQuality "1"]
1. e4 c6 2. d4 d5 3. Nc3 dxe4 4. Nxe4 Bf5 5. Ng3 Bg6 6. Bc4 e6 7. N1e2 Nf6 8.
Nf4 Bd6 9. Nxg6 hxg6 10. Bg5 Nbd7 11. O-O Qa5 12. f4 $5 {Das ist der Zug, mit
dem Tal “den Tiger vom Berg in die Ebene lockt”. Tal selbst gibt 12.f4 ein
“?!” und schreibt: “‘Schrecklich’, ‘anti-positionell’, ‘unglaublich’, etc.,
etc. – so haben ausnahmslos alle Kommentatoren den letzten Zug von Weiß
beurteilt. Man könnte glauben, der Spieler mit den weißen Steinen hätte nie
einen Blick in ein Anfängerbuch geworfen, denn da steht Schwarz auf Weiß
geschrieben, dass man einen Zug wie 12.f4 wirklich nicht spielen darf, da er
die schwarzen Felder schwächt, den Läufer auf g5 vom Spielgeschehen
abschneidet und die bereits kompromittierte Stellung des weißen Königs noch
weiter gefährdet. … Ich möchte die Gedanken, die mir in den acht Minuten,
die ich über meinen 12. Zug nachgedacht habe, durch den Kopf gingen, kurz
erläutern. Zunächst einmal kam ich zu dem Schluss, dass Weiß nicht den
Hauch eines Eröffnungsvorteils hat. Trotzdem könnte Weiß das Schiff mit 12.
Dd2 in Richtung Remishafen lenken, der wahrscheinlich gar nicht weit entfernt
gewesen wäre. … Tatsächlich hat Weiß in dieser Stellung keine große Wahl:
sein Läufer ist angegriffen und jeder Läuferrückzug wäre inkonsequent; dem
Abtausch auf f6 fehlt jede positionelle Rechtfertigung, den Läufer mit Dc1 zu
decken ist sehr passiv und der Zug 12.f4 ist einfach schlecht. … Doch
schließlich blieb mein Blick an 12.f4 hängen. Das war mir zwar irgendwie
peinlich, denn die Nachteile dieses Zugs sind offensichtlicher als die
Nachteile der anderen Züge, obwohl es in der Stellung keinen Zug ohne
Nachteile gibt. Weniger offensichtlich sind die Vorteile dieses Zuges, aber es
gibt sie, obwohl sie nicht nur schachlicher Natur sind. Zuallererst verlangt
der Zug ‘nach einer Widerlegung’, und das sollte einen zweischneidigen,
taktischen Kampf möglich machen, und der wäre, geht man nach Botvinniks Stil
in diesem Match, nicht in seinem Sinne. Zweitens kann die Schwächung der
weißen Stellung nur durch ein Unterminieren des Zentrums ausgenutzt werden
und nach Zügen wie …c5 oder …e5 wird die Kraft der weißen Läufer
bedeutend vergrößert. Und schließlich kann Schwarz den Königsflügel von
Weiß nur angreifen, wenn er lang rochiert, aber dann kann Weiß seine
Bauernmasse am Damenflügel in Gang setzen. Vielleicht hätte Schwarz einfach
12…0-0 antworten sollen, aber das ist dann doch keine Widerlegung…} O-O-O
13. a3 Qc7 {Botvinnik dachte über eine halbe Stunde nach, bevor er die Dame
nach c7 spielte. Wie Tal anmerkt, “ein gutes Zeichen”, denn “es schien doch
nicht so einfach zu sein, 12.f4 sofort zu widerlegen”. Moderne
Computerprogramme urteilen übrigens nüchterner: sie ziehen den Zug 12.f4
ziemlich schnell in die engere Auswahl und auch in dieser Stellung sehen sie
allerhöchstens einen kleinen Vorteil für Schwarz.} 14. b4 Nb6 15. Be2 Be7 16.
Qd3 Nfd5 {Botvinnik entscheidet sich für ein positionelles Vorgehen, das zu
einer ungefähr ausgeglichenen Stellung führt.} ({Mit} 16... c5 {hätte
Schwarz Verwicklungen herbeiführen können, die klar besser für ihn sind.
Nach} 17. bxc5 Rxd4 18. cxb6 Rxd3 19. bxc7 Bc5+ 20. Kh1 Rxg3 {“scheint”, so
Tal, “die Stellung günstig für Schwarz zu sein.” Er fügt jedoch hinzu, dass
Weiß nach} 21. Bxf6 gxf6 22. Bf3 {“nicht verlieren muss.” Die Engines sehen
Schwarz nach 22…Kxc7 oder 22…g5 allerdings klar im Vorteil. Schwarz hat
einen Bauern mehr und die aktivere Stellung.}) 17. Bxe7 Qxe7 18. c4 Nf6 ({
Hier verweist Tal auf die interessante Möglichkeit} 18... Nxc4 19. Qxc4 Qh4
20. Rf3 Nxf4 21. h3 Rxd4 22. Qc5 {“mit einer sehr scharfen Stellung, in der
sich der weiße Läufer als stärker als die schwarzen Bauern erweist.” Doch
Botvinnik behandelt die Stellung weiter strategisch und spielt gegen die
Schwäche des Bauern auf d4.}) 19. Rab1 {Nach der Partie kritisierte Tal
diesen Zug als “zu optimistisch”.} ({Er empfiehlt stattdessen} 19. a4 {macht
aber bei der Analyse der dann entstehenden Varianten einen aufschlussreichen
Fehler, der verrät, dass er gegnerische Möglichkeit gelegentlich übersah:}
Qxb4 20. a5 Nxc4 {Dieses Figurenopfer hatte Tal während der Partie gesehen
und es hatte ihm nicht gefallen. Nach} 21. Rfb1 Qd2 22. Qxc4 {setzt er hier in
seiner Analyse mit 22…Dxd4+ fort, was zu einem ausgeglichenen Endspiel
führt. Tatsächlich kann Schwarz aber mit} Qe3+ {sofort gewinnen:} 23. Kf1 ({
Oder} 23. Kh1 Rxh2+ 24. Kxh2 Rh8+ 25. Nh5 Nxh5 {und Weiß wird in wenigen
Zügen Matt gesetzt.}) 23... Ne4 24. Nxe4 Rxh2 {und Schwarz gewinnt.}) 19...
Qd7 20. Rbd1 Kb8 21. Qb3 Qc7 22. a4 Rh4 23. a5 Nc8 24. Qe3 Ne7 25. Qe5 Rhh8 26.
b5 $6 {[#]In dem Gefühl, dass seine Stellung langfristig positionell
kompromittiert ist, sucht Tal weiter nach taktischen Möglichkeiten. Er selbst
schreibt: “Objektiv eine riskante Fortsetzung, aber ich sah keine andere
Möglichkeit, die Stellung zu verstärken. … Deshalb kommt Weiß zu dem
Schluss, dass er ohne Rücksicht auf Schwächen nicht länger warten kann und
Linien am Damenflügel öffnen muss.”} ({Die Engines empfehlen statt dem
Textzug 26.b5 jedoch} 26. a6 {und sehen Weiß nach} b6 ({oder} 26... bxa6 27.
Ra1 {mit klarem Vorteil für Weiß.}) 27. Bf3 Nd7 28. Qe3 {leicht im Vorteil.})
26... cxb5 27. Qxb5 a6 28. Qb2 Rd7 29. c5 Ka8 30. Bf3 Nc6 31. Bxc6 Qxc6 32. Rf3
{Weiß greift weiter an und sucht nach taktischen Möglichkeiten, Schwarz
versucht die weißen Drohungen zu parieren, um dann die strukturellen
Schwächen der weißen Stellung auszunutzen.} Qa4 33. Rfd3 Rc8 {Zu diesem Zug
schreibt Tal: “In bisherigen Verlauf der Partie war M. Botvinnik allen
zweischneidigen Fortsetzungen ausgewichen, aber kurz vor der Zeitkontrolle
trifft er eine schwerwiegende Entscheidung und will Material gewinnen.” Tals
“Locken” hat Erfolg gehabt.} 34. Rb1 Qxa5 {Schwarz nimmt den Bauern. Nach
diesem Zug hatte Botvinnik noch neun Minuten für die restlichen sechs Züge,
eine Minute weniger als Tal, der noch zehn Minuten hatte, um die Zeitkontrolle
zu erreichen.} 35. Rb3 ({Den Engines zufolge hat Weiß übrigens volle
Kompensation für den Bauern. Statt des Textzugs empfehlen sie allerdings den
überraschenden Rückzug} 35. Nf1 {z.B.} Qc7 36. Ne3 Qxf4 37. Nc4 Nd5 38. Nd6
Rb8 39. Rf3 Qh4 40. g3 Qe7 41. Rxf7 {mit klarem Vorteil für Weiß.}) 35... Qc7
36. Qa3 Ka7 37. Rb6 Qxf4 {Nach diesem Zug hatte Botvinnik nur noch eine Minute
für seine letzten drei Züge.} 38. Ne2 ({Hier schreibt Tal: “Wahrscheinlich
hätte Weiß in der Variante} 38. Qb4 Qxd4+ 39. Qxd4 Rxd4 40. Rxb7+ Ka8 41. c6
{genügend Gegenspiel für ein Remis bekommen.” Aber er wollte mehr.}) 38...
Qe4 39. Qb3 Qd5 $2 {Nach diesem Fehler in Zeitnot hat Tals Strategie Erfolg.} (
{Der einzige Zug, der die weißen Drohungen pariert, war der paradoxe Rückzug
} 39... Ka8 {, den Botvinnik mit weniger als einer Minute auf der Uhr nicht
gefunden hat. Die Engines zufolge hat Schwarz nach 39…Ka8 zwar klaren
Vorteil, aber steht trotz seiner zwei Mehrbauern noch nicht auf Gewinn. Tal
kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: “Ich behaupte nicht, dass Weiß nach
39…Ka8 Angriff genug hat, um sich zu retten, aber meiner Meinung nach
enthält die Stellung viele taktische Ressourcen. Möglich wären dann z. B.
die Fortsetzungen 40.h4 oder 40.Tb4. Nach beiden Fortsetzungen wäre die
Stellung sehr scharf.”}) 40. Rxa6+ $1 {Diese taktische Möglichkeit hatte
Botvinnik übersehen.} Kb8 ({Nach} 40... bxa6 41. Qb6+ Ka8 42. Qxa6+ Ra7 43.
Qxc8# {wird Schwarz Matt gesetzt.}) 41. Qa4 {Hier gab Botvinnik die Partie auf.
Mit diesem Sieg Tals war eine Vorentscheidung im Wettkampf gefallen, denn Tal
führte jetzt mit 10-7 und brauchte aus den letzten sieben Partien des
Wettkampfs nur noch 2,5 Punkte, um Weltmeister zu werden. Außerdem scheint
diese bittere Niederlage Botvinniks Widerstand gebrochen zu haben. Nach einem
Remis in der 18. Partie verlor er auch noch die 19. und nach zwei weiteren
Unentschieden in den Partien 20 und 21 hatte Tal den Kampf gewonnen und war
neuer Weltmeister.} 1-0
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Siehe auch:
Strategeme
Strategeme – Das Geheimnis des chinesischen Schachs?
Keine Ethik, keine Moral: „Mit dem Dolch eines anderen töten“
Xie Jun: Mit Begeisterung zum Erfolg
Erst verwirren, dann gewinnen: Strategem Nr. 20
Auf das Dach locken…
Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnutzen: Strategem Nr. 5
Mikhail Botvinnik
Mikhail Botvinnik: Der eigensinnige Patriarch
Klassische Momente
Einfach gut: Michael Steans „Simple Chess“
Mehr als nur eine Schachpartie…
Zeitnot ist halt meist ein schlechter Ratgeber.