Im Januar 2010 eroberte Magnus Carlsen als jüngster Spieler aller Zeiten Platz eins der Weltrangliste im Schach und auch sonst war 2010 ein bewegtes Jahr für den Norweger. Er spielte eine Reihe erfolgreicher Turniere, versuchte sich im Sommer erfolgreich als Model, durchlebte im Herbst eine Formkrise und verzichtete im November auf die Teilnahme am Kandidatenturnier 2011. Sein Rivale Vishy Anand verteidigte 2010 einmal mehr seinen Weltmeistertitel und besiegte Veselin Topalov im WM-Kampf in Sofia mit 6,5:5,5. Auch Carlsen hatte Anand 2010 gut im Griff – zumindest statistisch. Sie spielten sechs Mal gegeneinander, vier Partien endeten Remis, zwei Mal gewann Anand. Ein Ergebnis, das auch anders hätte aussehen können.
Fast schon traditionell trafen Anand und Carlsen 2010 das erste Mal beim Corus Turnier in Wijk aan Zee aufeinander. Und fast schon traditionell endete ihre Partie dort mit einem kurzen schmucklosen Remis.
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Das Turnier in Wijk wurde jedoch zu einem glanzvollen Erfolg für Carlsen, der seine Stellung als Nummer eins der Weltrangliste eindrucksvoll bekräftigte. Er gewann mit 8,5 aus 13 vor Vladimir Kramnik und Alexei Shirov, die 8 Punkte aus 13 Partien erzielen konnten. Einen halben Punkt dahinter folgte Anand, der sich mit 7,5 aus 13 mit Hikaru Nakamura Platz vier und fünf teilte, aber als einziger Spieler im Feld ungeschlagen blieb.
Nach dem Corus-Turnier dauerte es bis zum August 2010, bis Anand und Carlsen wieder in einem Turnier gegeneinander antraten. Das war allerdings „nur“ ein Schnellturnier: das Arctic Securities Chess Stars im norwegischen Kristiansund. Judit Polgar, Jon Ludvig Hammer, Vishy Anand und Magnus Carlsen unterhielten das norwegische Publikum mit kurzen Wettkämpfen im Schnellschach. Hier gelang Carlsen ein Erfolg gegen Anand: Nach zwei Remispartien in der Vorrunde besiegte der Norweger den Weltmeister im Finale mit 1,5:0,5.
Richtig ernst wurde es dann wieder im Oktober. Da gab es gleich zwei Turniere, in denen Carlsen und Anand aufeinander trafen: beim Grand Slam Finale in Bilbao und beim Pearl Spring Turnier im chinesischen Nanjing.
Das Grand Slam Finale in Bilbao war ein doppelrundiges Turnier mit vier Teilnehmern: Magnus Carlsen, Vishy Anand, Vladimir Kramnik und Alexei Shirov. Kramnik gewann mit 4 aus 6, Anand wurde Zweiter mit 3,5 aus 6 und landete damit einen ganzen Punkt vor Carlsen, der mit 2,5 aus 6 nicht einmal auf 50 Prozent kam und am Ende nur einen halben Punkt mehr als Schlusslicht Shirov auf dem Konto hatte.
Carlsens schlechte Form zeigte sich auch in seinen beiden Partien gegen Anand. In der Hinrunde überraschte ihn Anand mit einer gefährlichen Neuerung im Spanier, die Carlsen jedoch ohne große Mühe neutralisierte, um seinerseits die Initiative zu ergreifen. Doch dann ruinierte Carlsen seine guten Möglichkeiten mit einem taktischen Versehen in komplizierter Stellung.
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In der Rückrunde hatte Carlsen gute Möglichkeiten zur Revanche, doch die ließ er ungenutzt verstreichen.
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Anand und Carlsen bei der Analyse ihrer Partie in Bilbao (Foto: Nadja Woisin)
Unmittelbar nach Ende des Grand Slams in Bilbao reisten Carlsen und Anand nach China, zum Pearl Spring Turnier in Nanjing. Dort war von einer Formkrise Carlsens nichts mehr zu sehen. Er gewann das stark besetzte doppelrundige Turnier mit sechs Teilnehmern souverän mit 7 aus 10 und einer Performance von 2901.
Eine überzeugende Leistung Carlsens. Nur Anand ließ er abermals entkommen. Wobei ihr Duell in der Hinrunde wenig Spannung bot. In einer Variante des Spaniers, die sie schon mehrfach auf dem Brett hatten, geschah nicht viel Neues und nach 44 Zügen endete die Partie mit Remis.
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Umso interessanter verlief die Partie der Rückrunde. Carlsen hatte Weiß und nach zurückhaltender Eröffnung überspielte er den Weltmeister mit unauffälligen Mitteln.
Magnus Carlsen bei der Pressekonferenz in Nanjing 2010 (Foto: Turnierseite)
Doch einmal mehr konnte Carlsen seine Chancen nicht nutzen und ließ Anand ins Remis entschlüpfen.
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Den Abschluss des Jahres bildeten die zweiten London Chess Classic. Um den Kampfgeist der Teilnehmer zu beflügeln, spielte man in London mit der 3-Punkt-Regel (3 Punkte für einen Sieg, 1 Punkt für ein Remis und 0 Punkte für eine Niederlage). Diese Regelung erwies sich als Segen für Carlsen. Denn er verlor zwar gegen Luke McShane und gegen Anand, aber mit vier Siegen und nur einem Remis sicherte er sich am Ende doch noch den Turniersieg.
Was Carlsens Niederlage gegen Anand betrifft, so sieht die Partie zwar auf den ersten Blick ziemlich einseitig aus, aber in einem kurzen Interview nach der Partie verriet Anand, dass dieser Eindruck täuscht.
1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 a6 4. Ba4 Nf6 5. O-O Be7 6. Re1 b5 7. Bb3 d6 8. c3
O-O 9. h3 Nb8 10. d4 Nbd7 11. Nbd2 Bb7 12. Bc2 Re8 13. a4 Bf8 14. Bd3 c6 15. b4
Rc8 16. axb5 cxb5 17. Bb2 d5 18. exd5 exd4 19. Rxe8 Qxe8 20. c4 {Der Auftakt
zu einem Bauernopfer, das Weiß Angriff und gute taktische Chancen gibt.} bxc4
21. Nxc4 Nxd5 22. Nxd4 Nxb4 23. Nf5 Nxd3 24. Qxd3 Be4 ({Einmal mehr eine
taktisch komplizierte Stellung, in der Computerprogramme die Verteidigung im
Nachhinein trügerisch einfach aussehen lassen. Mit} 24… Nc5 25. Nh6+ Kh8 26.
Qf5 Qe4 27. Nxf7+ Kg8 28. Qxe4 Nxe4 {konnte Schwarz den weißen Angriff
abwehren und Vereinfachungen herbeiführen.}) 25. Qd4 $1 {Inspiriert.} Bxf5 26.
Nd6 Qd8 27. Nxf5 f6 28. Rd1 Rc2 $2 {Das verliert.} ({Schwarz musste sich mit}
28… Rc7 {passiv verteidigen.}) 29. Nh6+ gxh6 30. Qg4+ Bg7 31. Qe6+ Kh8 32.
Rxd7 Qf8 33. Ba3 Qg8 34. Qxa6 {Materiell ist die Stellung ausgeglichen, aber
Schwarz hat eine schreckliche Bauernstellung und Weiß immer noch Angriff. Im
weiteren Verlauf der Partie findet Anand zwar nicht den schnellsten Weg zum
Sieg, aber den Gewinn gibt er nicht mehr aus der Hand.} Qe8 35. Qa7 Qg8 36. Be7
Rc8 37. Qa6 Qe8 38. Ra7 Kg8 39. Qe6+ Kh8 40. Qa6 Kg8 41. Qe6+ Kh8 42. Kh2 Rc6
43. Qb3 Rc8 44. Bd6 Qg6 45. Qb7 Rd8 46. Bg3 Rg8 47. h4 Qf5 48. Qc7 Qd5 49. Ra5
Qe4 50. Qd7 Qc4 51. Qf5 Qc8 52. Qf3 Qd7 53. Bf4 Qf7 54. g3 Re8 55. Be3 Rg8 56.
Ra6 Re8 57. Ra7 Re7 58. Qa8+ Qf8 59. Ra6 Re8 60. Qc6 Rc8 61. Qf3 Qf7 62. Ra7
Qe6 63. Qb7 Qg8 64. Bf4 Rd8 65. Qa6 Re8 66. Rc7 Ra8 67. Qc6 Re8 68. Be3 Rb8 69.
Bd4 Qf8 70. Qc3 Re8 71. Rc6 Qf7 72. Bxf6 Rf8 73. Bxg7+ Qxg7 74. Qe3 Qb2 75. Kg2
Qb7 76. Qxh6 Qf7 77. Rc2 1-0
Gesamtbilanz
In einem Interview mit dem indischen Schachjournalisten Vijay Kumar schilderte Anand im Anschluss an die Partie noch einmal kurz die zentralen Momente der Begegnung (ab 2:44 im Video):
„Um den 20. Zug herum dachten wir beide, dass Schwarz die besseren Chancen hat. Doch ich habe gerade genug Gegenspiel, um in der Partie zu bleiben. Und er wollte zu viel.“ Abschließend bemerkte Anand: „Okay, ein hübscher Sieg, aber ich brauchte Hilfe von ihm.“
Diese Hilfe hatte Carlsen Anand 2010 unfreiwillig in mehr als einer Partie gewährt und dabei wichtige halbe Punkte verloren. Dennoch hatte sich 2010 das Muster ihrer vorherigen Begegnungen verändert. Denn in ihren Partien zuvor hatte Carlsen nur ganz selten Gewinnchancen gehabt, doch 2010 hatte Anand seinen Rivalen nicht mehr so gut im Griff und Carlsen hatte mehr als eine gute Chance, um seine verheerende Gesamtbilanz gegen Anand zu verbessern – auch wenn ihm das nicht gelungen ist.
Ob und was Carlsen aus der unfreiwillig von ihm geleisteten Hilfe gelernt hat, erfährt man im nächsten Blogbeitrag über das Duell zwischen Anand und Carlsen.