Schulmeisterliche Kritik: Wie man starkes Schach zernörgelt
Eine Besprechung von Adrian Michaltschischins und Oleg Stetskos, Kämpfen und Siegen mit Magnus Carlsen, Edition Olms, Zürich 2012, 312 Seiten.
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Geht man nur nach der Elo-Zahl, dann ist Magnus Carlsen der beste Schachspieler aller Zeiten. Jetzt, wo er nach seinem Sieg im Kandidatenturnier in London 2013 gute Chancen hat, auch Schachweltmeister zu werden, bietet es sich an, einen Blick auf Carlsens Laufbahn zu werfen. Das haben Adrian Michaltschischin und Oleg Stetsko vorsorglich 2012 in ihrem Buch Kämpfen und Siegen mit Magnus Carlsen getan, in dem sie sich 64 Partien Carlsens anschauen, um dem Geheimnis des norwegischen Schachphänomens auf die Spur zu kommen. Den Anfang dieser Sammlung macht ein Angriffssieg gegen H.K. Harestad aus dem Jahre 2003, den Abschluss bildet Carlsens verblüffend einfach wirkender positioneller Gewinn gegen Liviu-Dieter Nisipeanu beim Turnier in Medias 2011. Doch Heldenverehrung betreiben Michaltschischin und Stetsko nicht. Im Gegenteil.
Sie analysieren die Partien des norwegischen Ausnahmetalents gründlich und kritisch, ja, sehr kritisch. Tatsächlich hätten mehr Begeisterung, weniger Förmlichkeit, weniger Steifheit und vor allem weniger Kritiksucht dem Buch nicht geschadet. Das gilt vor allem für die Texte, die Carlsens Schachkarriere nachzeichnen. Eine trockene Nacherzählung eines Turniers folgt der nächsten – nette Geschichten, Humor und Witz sind Mangelware. Dafür finden die Autoren selbst bei den größten Erfolgen Carlsens mindestens ein Haar in der Suppe. 2010 gewann Carlsen im rumänischen Bazna ein doppelrundiges Sechserturnier der Kategorie 20 mit 7,5 aus 10 und zwei Punkten Vorsprung, doch wie Stetsko und Michaltschischin einen wissen lassen, “… war [Carlsens] Überlegenheit im Laufe des Turniers nicht so eindeutig. In einem bestimmten Moment hätte er von Gelfand herausgefordert werden können. In der Partie gegen den Israeli musste der Norweger sich buchstäblich mit einzigen Zügen verteidigen. Und auch der Start mit drei Unentschieden war wenig überzeugend für den 19-jährigen Norweger.” (S.282) Mit anderen Worten: Carlsen kann sich zäh verteidigen und hat aus den letzten sieben Runden gegen ein Feld der absoluten Weltklasse 6 aus 7 geholt.
Zu dieser Haltung der Nörgelei und Kritiksucht passt, dass die Autoren gleich in der Einleitung 13 Endspiele anführen, die Carlsen fehlerhaft behandelt hat. Natürlich dient das einer guten Sache. So schreiben Michaltschischin und Stetsko: “Wohl bekannt ist, dass Endspiele, insbesondere unter den Bedingungen der heutigen verkürzten Bedenkzeitregelungen, für junge Akteure eine Schwierigkeit darstellen können. … Dafür gibt es verschiedene Gründe: fehlende Kenntnis der Standardpositionen, der typischen Manöver und selbstredend die Ignoranz gegenüber den klassischen Partiebeispielen. Diese Lücken sind nicht leicht ohne die fundierte Hilfe eines hochqualifizierten Trainers zu schließen. Daher wird es für die Lernenden von Interesse sein zu sehen, welche Fehler Magnus als blutjunger Spieler gemacht hat, wie er diese ausmerzen konnte und woran er heute immer noch arbeitet.” (S.15)
Nun, ich zumindest will nicht wissen, welche Standardpositionen im Endspiel der junge Carlsen nicht kannte, und schon gar nicht interessiert mich das am Anfang eines Buches über ein Schachphänomen wie Carlsen. Da will ich wissen, was den Norweger zu einem Ausnahmespieler macht, ich will nicht seine Schwächen sehen, sondern seine Stärken. Und ich möchte Begeisterung oder doch zumindest Wohlwollen, Anerkennung und Respekt für seine Leistung und sein Talent, aber keine humorlosen Ermahnungen, ja nicht übermütig zu werden, immer hübsch fleißig zu sein, auf die Ratschläge “hochqualifizierter Trainer” zu hören und die “klassischen Partiebeispiele” nicht zu ignorieren.
Foto: Anastasiya Karlovich, Turnierseite Kandidatenturnier London 2013
Nicht nur hier wünscht man dem Buch mehr Leichtigkeit, aber Michaltschischin und Stetsko scheinen von der Bürde sowjetischer Schachtradition niedergedrückt zu werden. Typisch ist ihre Anmerkung zu Carlsens Niederlage gegen Gelfand – “eine wahre Lehrstunde in punkto Strategie” – beim Tal-Memorial 2006 in Moskau: “‘Genau wie Tschigorin’, kommentierte Juri Rasuwajew die Gelfandschen Springermanöver, mit denen der Absolvent der Sowjetischen Schachschule die gegnerischen Läufer ausschaltete.” (S.106).
Stichwort Moskau. Drei Jahre später besucht Carlsen die russische Hauptstadt erneut und wie Michaltschischin und Stetsko wissen, ist “die Teilnahme am 4. Tal-Memorial im November 2009 … für Magnus Carlsen von besonderer Bedeutung. Denn er kann hier nicht nur das Kräftemessen mit den besten Spielern der Welt fortsetzen, sondern auch die Gelegenheit nutzen, mit den reichen schachlichen und kulturellen Traditionen Moskaus in Berührung zu kommen.” (S.262)
Vorzüge, über die andere europäische Hauptstädte anscheinend nicht verfügen, denn acht Seiten später heißt es lapidar. “Das letzte Turnier im Jahr 2009 war das London Chess Classic (8.-15. Dezember) mit acht Großmeistern, die eine FIDE-Kategorie 18 konstituierten.” (S.270)
Wäre es zu viel verlangt gewesen, darauf hinzuweisen, wie die London Chess Classic die Darstellung des modernen Schachs bereichert haben, unter anderem mit Live-Kommentaren und im Internet übertragenen Analysen der Spieler direkt nach der Partie? Zumal man diese Analysen immer noch auf youtube findet, und man dem Leser so verraten könnte, wie er Carlsen bei der Analyse zuschauen kann?
Apropos youtube. Dort gab es einmal einen – mittlerweile entfernten – Clip, in dem zu sehen war, wie Carlsen im norwegischen Fernsehen im Februar 2012 eine Blitzpartie gegen Outdoor-Ikone, Abenteurer und Hobbyspieler Lars Monsen spielt. Carlsen hat 30 Sekunden für die ganze Partie, Monsen drei Minuten, das Brett steht auf einem niedrigen Tisch, Carlsen hockt davor, Monsen kniet, unbequem wirken beide Stellungen. Schachlich ist die Partie keine Offenbarung, aber sie verrät etwas über Carlsens Nervenstärke. Die ganze Partie über zieht Carlsen mit rechts, seine linke Hand liegt auf dem Tisch vor dem Brett – und zittert nicht ein einziges Mal.
Mihail Botvinnik, der Patriarch der Sowjetischen Schachschule, blitzte nicht gern und ein solcher Fernsehauftritt wäre ihm wahrscheinlich zu frivol gewesen. Carlsen ist da lockerer und zeigt, wie Schach Spaß bringen kann, wenn man nicht alles ganz so ernst nimmt. Diesen Spaß sollte man sich durch Nörgelei und Kritiksucht nicht nehmen lassen.