Eine Schachpartie mit David Foster Wallace
1995 schickte das Harper’s Magazine Wallace eine Anfrage, ob er Interesse hätte, im Auftrag und auf Kosten der Zeitschrift eine Kreuzfahrt zu unternehmen und anschließend einen Essay darüber zu schreiben. Wallace hatte Interesse. Die Eckdaten seiner Reise fasste er im Essay mit charakteristischer Liebe zum Detail zusammen:
Vom 11. bis 18. März 1995 unternahm ich freiwillig und gegen Bezahlung eine siebentägige Karibik-Kreuzfahrt (der Katalog spricht hier von einer 7-Night- Caribbean oder ‘7NC’-Cruise) an Bord der Zenith, einem 47255-Tonnen-Schiff der Celebrity Cruises Inc., einer von über zwanzig Kreuzfahrtlinien, die von Südflorida aus operieren.
In einer der für Wallace’ Werk so typischen Fußnoten, mit denen er seine Gedanken und Aussagen immer wieder ergänzt, qualifiziert oder in Frage stellt, folgt noch ein ironischer Nachsatz über den Namen des Schiffes:
Schon beim ersten Blick in den Celebrity-Cruises-Katalog wird es sich kein Scherzbold verkneifen können, den dummen Namen Zenith in Nadir umzutaufen. Man verzeihe mir das. Gegen das Schiff an sich habe ich überhaupt nichts.
Wallace’ Essay über seine Kreuzfahrt-Erlebnisse erschien 1996 im Harper’s Magazine unter dem Titel “Shipping Out“, eine längere Version seiner Abenteuer auf See veröffentlichte Wallace 1997 in seiner Essay-Sammlung “A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again” – und das ist auch der englische Titel seines Kreuzfahrt-Essays.
Die deutsche Version des Essays erschien 2002 im marebuchverlag als eigenständiges Buch. Die folgenden Zitate entstammen der 2015 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Taschenbuchausgabe
Im Laufe der Kreuzfahrt, die Wallace detailliert, eigenwillig, sprachlich brillant und mit subtiler Ironie beschreibt, spielt er auch eine Partie Schach gegen eine Neunjährige:
Die Schachspiele in der Bibliothek der Nadir sind die billigen Plastikdinger von Parker Brothers, die jeder gute Schachspieler einfach gernhaben muss. … Ich bin in Schach (sic) nicht annähernd so gut wie beim Tischtennis, halte mich aber trotzdem für einen ziemlich guten Spieler. Auf der Nadir spiele ich meistens gegen mich selbst (was längst nicht so öde ist, wie es sich anhört), denn ich bin, bei allem Respekt, zu dem Schluss gekommen, dass der normale 7NC-Kreuzfahrer eher kein Schachgenie ist.
Heute hingegen werde ich in 23 Zügen geschlagen – und zwar von einem neunjährigen Mädchen. Also machen wir es kurz. Sie heißt Deirdre und gehört zu den wenigen Kindern an Bord, die nicht in den Kindergarten (genannt Daycare Grotto) auf Deck 4 weggesperrt werden. Deidres Mutter liefert sie weder im Kindergarten ab noch weicht sie sonst von der Seite ihrer Tochter. Sie hat diesen schmallippigen Ausdruck im Gesicht, dieses scharfe Augenglitzern von Eltern, deren Kind irgendetwas besonders ganz besonders gut kann, was andere nicht so gut können.
Dieses und andere Zeichen einer bevorstehenden Schmach hätte ich erkennen können. Doch ich befand mich gerade in einem Szenario, in dem beide Seiten eine Damenindische Verteidigung errichtet hatten, als dieses Kind auf mich zukommt und mich am Ärmel zieht und fragt, ob ich spielen wolle. Ungelogen, es zieht mich am Ärmel, spricht mich mit Mister an – und das mit Augen so groß wie Frühstücksteller. Rückblickend scheint mir, dass es für neun Jahre doch ein bisschen groß war, vor allem diese mutlose Körperhaltung mit den traurig hängenden Schultern hätte mich stutzig machen müssen. Ein solches Abbild ihrer Psyche geben Mädchen erst, wenn sie sehr viel älter sind. Und wie gut dieses Mädchen auch immer Schach spielt, glücklich ist es bestimmt nicht. Aber egal, das tut hier nichts zur Sache.
Deirdre zieht sich einen Stuhl heran und verkündet, dass sie normalerweise lieber die schwarzen Figuren spielt, wobei sie zu meiner Kenntnis hinzufügt, dass die Farbe Schwarz in vielen Kulturen überhaupt nicht mit Tod und Trauer gleichgesetzt werde, sondern eher denselben Symbolwert besitze wie Weiß in den USA, während Weiß wiederum eine morbide Farbe sei. Ich erwidere, dass ich das alles schon weiß und wir fangen an. Ich rücke mit ein paar Bauern vor, die von Deidre prompt mit dem Springer bedroht werden. Derweil hat sich Deidres Mutter hinter dem Sessel ihrer Tochter postiert und verfolgt – mit Ausnahme der flackernden Augen – regungslos das Geschehen. Ich weiß sofort, dass ich für diese Mutter nur Verachtung übrighabe. Sie ist das wandelnde Klischee einer Wunderkindmutter. Dagegen scheint mir Deidre ganz okay zu sein. Ich habe schon gegen etliche Superkids gespielt, doch spart sich dieses hier wenigstens das höhnische Grinsen oder Triumphgeheul. Fast scheint Deirdre ein bisschen traurig, dass ich keine größere Herausforderung für sie darstelle.
Schon nach dem vierten Zug schwant mir nichts Gutes. Mein Fianchetto jedenfalls durchschaut sie sofort und verwendet den Begriff korrekt, wobei sie wiederum ein Mister anhängt. Verdächtig auch die Art, wie ihre kleine Hand nach jedem Zug zur Seite wischt – für mich ein untrügliches Zeichen, dass sie an eine Schachuhr gewöhnt ist. Beim zwölften Zug erledigt ein wohlvorbereitetes Manöver mit König und Dame und meine eigene Dame, und von da an ist alles nur eine Frage der Zeit.
Leider ist die Übersetzung nicht immer auf der Höhe. Hier zum Beispiel stimmt die Schachterminologie nicht. Im Original heißt es: “She swoops in with her developed QK and forks my queen on the twelfth move and after that it’s only a matter of time”, eine mögliche Übersetzung wäre: “Sie überfällt mich mit ihrem entwickelten Damenspringer und nach einer Gabel verliere ich im zwölften Zug meine Dame und danach ist alles nur noch eine Frage der Zeit”.
Doch die Partie endet schnell:
Aber das spielt keine Rolle. Ich war fast dreißig, als ich überhaupt mit Schach angefangen habe. Zug 17, und drei steinalt und verschwistert aussehende Gestalten kommen vom Puzzletisch zu uns herübergewackelt und werden Zeuge, wie ich erst meinen Turm verliere und danach Schlag auf Schlag alles andere. Geschenkt. Weder Deidre noch ihrer fürchterlichen Mutter unterläuft ein Lächeln, als alles vorbei ist. Ich lächele in die Runde für drei, doch keiner, auch ich nicht, sagt etwas von einer weiteren Partie am folgenden Tag.
Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, S. 126-129.
Die Szene ist kurz, aber sie enthält zentrale Motive des gesamten Essays. Eines dieser Motive ist “Tod”, das im englischen Original im Wort “thanatotic” anklingt, das in der Übersetzung zu “Tod und Trauer” wurde.
In der griechischen Mythologie ist Thanatos der Gott des Todes. Die oben abgebildete
Thanatos-Statue steht im Tempel von Artemis in Ephesos. (Bild: Wikipedia)
Ohnehin durchzieht die gesamte Szene des Schachspiels mit der jungen Deidre ein Gefühl von Traurigkeit und Enttäuschung darüber, dass die Möglichkeit einer interessanten Schachpartie oder zumindest einer netten Unterhaltung mit dem jungen Mädchen nicht erfüllt worden. Stattdessen beschreibt Wallace die “mutlose Körperhaltung … mit traurig hängenden Schultern” Deirdres, die von ihrer “fürchterlichen” Mutter kontrolliert wird und kommt zu dem Schluss: “glücklich ist sie ganz bestimmt nicht”. Auch die Partie selbst bereitet beiden wenig Vergnügen. Nicht dem Autor, der chancenlos und schnell verliert, aber auch nicht der Neunjährigen, die die Partie nicht genießen kann, weil der Gegner einfach zu schwach ist.
Das Gefühl unerfüllter Versprechen, einer Sehnsucht nach erfüllenden Beziehungen und die Suche nach etwas, das dem Leben Bedeutung gibt, durchziehen den gesamten Essay. So vertritt Wallace die These, dass die meisten Leute eine solche Kreuzfahrt aus Angst vor dem Tod unternehmen, und er schildert die Kreuzfahrt als ein Beispiel für die Vergeblichkeit des Versuchs, mit permanenter Unterhaltung glücklich zu werden.
Denn alle diese Kreuzfahrten umgibt etwas unerträglich Trauriges. Und wie bei den meisten unerträglich traurigen Sachen ist die Ursache komplex und schwer zu fassen, auch wenn man ihre Wirkung sofort spürt: An Bord der Nadir überkam mich – vor allem nachts, wenn der beruhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt erreichte – regelrecht Verzweiflung. … Todessehnsucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, hinter der sich wiederum die Angst vor dem Sterben verbirgt. … Denn darum geht es. Ein Urlaub bedeutet Schonung vor den Unannehmlichkeiten des Lebens, und da das Wissen um Tod und Untergang mit ziemlicher Sicherheit unangenehm ist, mag es verwundern, warum der alternative (sic; im Original heißt es hier “ultimative”) amerikanische Traumurlaub ausgerechnet darin besteht, in eine archaische Todesmaschine gepfercht zu werden. Doch auf einer 7NC Luxus-Kreuzfahrt arbeitet man geschickt am Traum vom Sieg über eben diesen Tod und Untergang. Eine (sic; im Original heißt es: ‘One way to “triumph”…) Methode des Siegs über den Tod besteht in eiserner Ertüchtigung; die überbordenden Wartungsanstrengungen der Nadir-Mannschaft finden ihre Entsprechung im Aufbauprogamm für die Passagiere: Diät, Fitnessübungen, Megavitamin-Nahrungsergänzungs-Schnickschack, kosmetische Chirurgie, Frank-Quest-Zeitmanagement-Seminare usw.
Natürlich gibt es, Stichwort Tod, noch eine zweite Möglichkeit. Nicht durch Ertüchtigung, sondern durch Erregung. Nicht durch harte Arbeit, sondern durch gnadenloses Vergnügen. Schier unübersehbar ist der 7NC-Veranstaltungskalender mit seinen Spiel- und Spaßaktivitäten. Bordfeste, Disco und Bühnenshows verbreiten eine permanente Partylaune, kitzeln das Adrenalin, machen müde Knochen munter. Hier spielt die Musik, pulsiert das Leben. Welche unglaublichen Weiterungsmöglichkeiten der Existenz. (Das Original ist eleganter, präziser und weniger geschwätzig als diese Übersetzung: ‘There’s another way out, too, w/r/t (ein von Wallace gerne verwendetes Kürzel, das für “with regard to” steht”) death. Not titivation but titillation. The 7NC’s constant activities, parties, festivities, gaiety and song; the adrenaline, the excitement, the stimulation. It makes you feel vibrant, alive. It makes your existence seem noncontingent.”)
Schrecklich amüsant, S. 15-20
Natürlich kann man über das Vergnügen, das Kreuzfahrten bereiten, geteilter Meinung sein, und nicht jeder würde die Vorstellung von morgens bis abends umsorgt und bespielt zu werden, als schrecklich und als uneingestandene Angst vor dem eigenen Tod und der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens empfinden. Bemerkenswert bleibt jedoch, wie Wallace die kurze Beschreibung einer Schachpartie mit einer Neunjährigen nutzt, um die zentralen Themen und Thesen seines Essays zu veranschaulichen und zu betonen.
Erstveröffentlichung: 16.01.2007 bei ChessBase
Siehe auch
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