Agatha Christie beim Schachturnier: Andy Soltis’ Schachroman “Los Voraces 2019”

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Schon seit einiger Zeit bilden die Turniere in Wijk aan Zee, Linares, Dortmund die Höhepunkte des Schachjahres. Aber bei allem Glanz fehlt ihnen doch etwas zur dauerhaften Größe: ein Turnierbuch. Das ist kein Zufall. Turnierbücher gelten als nicht mehr zeitgemäß, als schwer zu machen und noch schwerer zu verkaufen. Außerdem gibt es das Internet. Mittlerweile kann man sämtliche Partien der großen Turniere live verfolgen und kurze Zeit später per Download in seine Datenbank integrieren, darüber hinaus veröffentlichen zahlreiche Webseiten regelmäßig aktuelle Berichte, umrahmt von Fotos der Teilnehmer und Analysen herausragender Partien. Das Internet verschafft den Spitzenturnieren von heute mehr Aufmerksamkeit als ihre Vorgänger je hatten. Aber die Zeit im Web vergeht schnell: Kaum ist das eine Turnier vorbei, steht schon das nächste an, und was eben noch eine Sensation war, ist jetzt schon wieder fast vergessen. Turnierbücher hingegen bewahren die Erinnerung. Noch heute kennt fast jeder Schachspieler die Turniere in New York 1924 und in Zürich 1953, denn zwei hervorragende Turnierbücher sorgen dafür, dass sie nicht in Vergessenheit geraten.

Andy Soltis’ Buch über das Turnier der Weltelite in Los Voraces 2019 wird so viel Ruhm wahrscheinlich nicht vergönnt sein. Puristen könnte stören, dass dieses Turnier nie stattgefunden hat.

Doch von solchen Bedenken sollte man sich nicht abhalten lassen, dieses Buch zu lesen. Denn in Los Voraces 2019 gelingt dem amerikanischen Großmeister, Journalisten und Schachautor Soltis eine amüsante Mischung aus Schachsatire, Kriminalroman und Turnierbuch.

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Der Buchtitel bezieht sich auf ein kleines Dorf in der Wüste von New Mexico, dessen Bewohner kaum Kontakt zur Außenwelt haben und ihn auch nicht wünschen. Hierhin hatte sich der exzentrische Multimillionär und Schachliebhaber Rupert Sheldrake zum Ende seines Lebens zurückgezogen, und hierhin lockt er nach seinem Tode die besten Schachspieler der Welt mit dem Sheldrake Memorial Tournament, “The Greatest Tournament in Chess History … the first ever $20 million chess tournament”.

Finanziert wird das Turnier aus Sheldrakes stattlichem Erbe. Bei so viel Geld erklären sich die 14 besten Schachspieler der Welt sogar mit einigen ungewöhnlichen Regeln einverstanden: keine Sekundanten, keine Agenten, keine Computer, keine Begleiter, keine Telefongespräche, kein Kontakt zur Außenwelt welcher Art auch immer. Gespielt wird mit einer Bedenkzeit von zweieinhalb Stunden für 40 Züge, danach gibt es Hängepartien. Organisator, Schiedsrichter und Berichterstatter des Turniers ist der namentlich nie genannte Erzähler des Romans, selbst Großmeister und ehemaliger Spitzenspieler.

Beim Erscheinen des Buches war 2019 nur noch 15 Jahre entfernt, aber die Namen heutiger Talente tauchen auf der Teilnehmerliste von Los Voraces nicht auf. Dennoch sind die Ähnlichkeiten der fiktiven Großmeister mit lebenden Personen weder zufällig noch ungewollt, und die Romanhelden weisen Eigenheiten auf, die an heutige Spitzenspieler erinnern. Einer von ihnen starrt ins Leere, während er Züge ersinnt, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen, ein anderer verliert zwar manche Partie, aber nie die Analyse, während wieder ein anderer Sieg und Niederlage scheinbar gleichmütig hinnimmt. Wie im wirklichen Leben vereinbaren die Meister im Roman vorab Remis und halten sich nicht immer daran. Alle klagen über die Spielbedingungen und fordern Sonderkonditionen.

Doch schnell merkt der Schiedsrichter, dass er bei diesem Turnier mehr tun muss als nur die Egos der Weltelite zu besänftigen. Denn kurz vor Turnierbeginn stirbt ein Teilnehmer an einem Herzinfarkt und bei der Durchsuchung seines Hotelzimmers entdeckt der Schiedsrichter, dass jemand die Medikamente des Toten vertauscht hat, um den Herzinfarkt zu provozieren – und spätestens da fürchtet der Schiedsrichter, der Killerinstinkt eines seiner Schützlinge hätte das sozial verträgliche Maß überschritten.

Bald darauf gibt es ein zweites Todesopfer, diesmal durch eine Giftschlange in einer Handtasche. Und auch wenn der Erzähler keinen der Schachspieler für fähig hält, einen Mord zu begehen, so hat doch jeder von ihnen ein Motiv, seien es Kränkungen aus der Vergangenheit, der Wunsch nach Vernichtung eines Rivalen oder auch nur die Chance, im Turnier mehr Geld zu gewinnen, da mit jedem Mordopfer immer weniger Leute den Preisfond unter sich aufteilen müssen.

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So entsteht die klassische Grundsituation eines Agatha Christie Krimis: alle Charaktere im Roman kommen als Mörder in Frage, keiner kann den Schauplatz des Verbrechens verlassen, während der Mörder doch jederzeit wieder zuschlagen kann. Und auch wenn Soltis als Krimiautor nicht ganz an Agatha Christie heranreicht, so schildert er Teilnehmer, Verlauf und Partien dieses fiktiven Turniers doch spannender und anschaulicher als mancher Chronist reale Wettkämpfe. Gerade das Schach kommt dabei nicht zu kurz, denn wie in einem richtigen Turnierbuch analysiert der Erzähler die Höhepunkte der jeweiligen Runde. Diese geschickt in den Roman verwobenen, dramatischen und lehrreichen Partien hat sich Soltis allerdings nicht ausgedacht. Wie er im Vorwort erklärt, wurden die meisten von ihnen tatsächlich gespielt, etliche von Soltis selbst.

All das macht Los Voraces 2019 zu einem Vergnügen – und wie es bei guten Krimis sein soll, endet das Buch mit einer überraschenden, aber logischen Auflösung, auf die man als genauer Leser und scharfsinniger Amateurdetektiv früher hätte kommen können.

Andy Soltis, Los Voraces 2019, McFarland 2004, 259 S., kartoniert, 32,25€.
Mit Illustrationen von Linda Campbell Franklin

Siehe auch:

Ein unmögliches Matt

Na ja: Jeffrey B. Burtons Der Schachspieler

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