Einfach gut: Michael Steans „Simple Chess“

Michael Stean, geboren am 4. September 1953, gehörte Mitte der 70er Jahre zu den stärksten englischen Spielern. Er erzielte eine Reihe von Erfolgen in internationalen Turnieren und kam fünf Mal in die englische Olympiaauswahl. 1978 und 1981 arbeitete er als Sekundant von Viktor Kortschnoi, der in dieser Zeit zwei Mal die Kandidatenwettkämpfe gewann und gegen Anatoly Karpov um die Weltmeisterschaft spielen durfte. 1982 zog sich Stean im Alter von 29 Jahren vom Schach zurück und wurde Steuerberater. Zum Glück schrieb er 1978, vier Jahre vor Ende seiner Schachkarriere, noch einen kleinen Klassiker: Simple Chess, eine wunderbare Einführung in die Grundregeln der Schachstrategie.
Nach kurzer Einleitung beginnt Stean sein Buch mit folgender Stellung:

Botvinnik_Szilagyi

Ich weiß noch, wie ich diese Stellung das erste Mal gesehen habe. Das war Anfang der 80er Jahre beim „Stützpunkttraining“ der besten Hamburger Jugendlichen. Wir trafen uns einmal in der Woche und trainierten mit Gisbert Jacoby. Bei irgendeiner dieser Sitzungen zeigte er uns diese Stellung und fragte, wer besser steht.

Mir gefiel die schwarze Stellung gut. Schwarz ist voll entwickelt, Weiß nicht und die schwarzen Figuren scheinen gut zu stehen. Schwarz kann einen Turm in die d-Linie stellen, vielleicht auch zwei und dann davon träumen, einen Springer über c5 nach d3 zu bringen. Nun gut, Weiß hat das Läuferpaar, aber die Läufer wirken nun wirklich nicht bedrohlich. Außerdem muss sich Weiß erst einmal entwickeln und hat überhaupt keine Angriffspunkte.

Das sagte ich im Kreise meiner Kollegen und Rivalen auch – und musste einige spöttische Bemerkungen ertragen, als Gisbert zeigte, wie es weiterging. Hier die gesamte Partie.

Das entscheidende positionelle Merkmal der oben abgebildeten Stellung war mir völlig entgangen: Weiß hat die Kontrolle über die weißen Felder, denn er hat den weißfeldrigen Läufer, dem Schwarz nichts entgegenstellen kann.

Am nächsten Tag kaufte ich mir Simple Chess und war immer wieder beeindruckt, wie klar Stean erklärt. So weist er zum Beispiel darauf hin, dass Botvinnik in der Partie gegen Szilagyi eigentlich keine überraschenden Züge gemacht hat. „Abgesehen vielleicht von 18.Lg5 kann man keinen seiner Züge als überraschend oder schwer zu sehen bezeichnen. Sie waren alle ziemlich offensichtlich. Warum kann dann nicht jeder so spielen? Nun, man kann, vorausgesetzt man erkennt und versteht, wie wichtig Struktur ist. Das wichtigste Merkmal einer Stellung ist immer die Aktivität der Figuren. … Die größte Einschränkung der Figurenaktivität verursacht die Bauernstruktur. Und genau wie ein Gebäude mit Hilfe einer Reihe von Stahlträgern errichtet wird, baut eine Schachpartie auf dem Gerüst der Bauernstruktur auf. Im Unterschied zum feststehende Gebäudegerüst verfügt der Schachspieler in Bezug auf seine Bauern über ein gewisses Maß an Flexibilität. Die Aufgabe des Schachspielers besteht deshalb darin, eine Bauernstellung herbeizuführen, die seinen eigenen Figuren ein Höchstmaß an Freiheit und Stabilität gibt, während man dem Gegner diese Möglichkeiten verweigert.“

Durch solche griffigen Erklärungen wirkt das Buch auch fast 40 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch lebendig und frisch. Natürlich gibt es anspruchsvollere und modernere Bücher über Schachstrategie, aber Simple Chess bietet eine kurze, knappe und sehr verständliche Einführung in die Grundelemente positionellen Schachs: Vorposten, Schwache Bauern, Offene und halboffene Linien, der Minoritätsangriff, schwache und starke Felder und Raumvorteil, jeweils mit ein paar gut ausgewählten Partien witzig und anschaulich erläutert.

Manche Sätze aus dem Buch sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Zum Beispiel der folgende aus dem Kapitel über „Vorposten“: „Manchmal braucht man ein gutes strategisches Auge, um zu erkennen, wie wichtig ein bestimmtes Feld ist. Gott gab Botvinnik zwei sehr gute strategische Augen.“


Mikhail Botvinnik

Zur Illustration folgt eine Partie Botvinnik gegen Donner aus dem Jahre 1963.

Siehe auch:

Scheinbar einfach: Bobby Fischer at his Best

Mikhail Botwinnik: Der eigensinnige Patriarch

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