Mehr als nur eine Schachpartie
Botwinnik gegen Fischer, Schacholympiade Varna 1962
Der berühmteste sowjetische Schachspieler ist vielleicht Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Er sorgte zwar weniger als Schachspieler, sondern mehr als Politiker für Furore, aber seine Schachleidenschaft ist gut belegt, u.a. durch ein Foto aus dem Jahre 1908. Es zeigt den Berufsrevolutionär beim Schach mit Alexander Bogdanov, einem Physiker, Philosophen und Science-Fiction Schriftsteller, der damals mit Lenin um die Vorherrschaft in der bolschewistischen Partei kämpfte. Beide waren Gäste von Maxim Gorki, der sie auf die italienische Insel Capri eingeladen hatte. Doch dieses Urlaubsfoto wurde im Laufe der Zeit mehrfach verändert, und so kursieren verschiedene Versionen, von denen zwei hier abgebildet sind.
Auf dem linken Foto sieht man Lenin und Bogdanov am Schachbrett, hinter Lenin einen Herrn namens Ivan Ladyzhnikov, dann Gorki, daneben Gorkis Patensohn Zinovii Peshkov und rechts von ihm Natalia Bogdanova, die Ehefrau Alexander Bogdanovs. Von einer weiteren Zuschauerin vorne im Bild sieht man nur den Rock. Im Bild rechts hingegen hat sich Peshkov verabschiedet, genau wie die Frau mit Rock. Warum man und wer Peshkov nicht mehr in Lenins Urlaub dabei haben wollte, ist nicht bekannt, aber Peshkovs Laufbahn bot linientreuen Stalinisten genügend Anlass, ihn auch Jahre nach dem Tod Lenins nicht mehr in die Nähe des Revolutionsführers zu lassen: Peshkov kämpfte im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger für Frankreich und wurde 1916 von der französischen Regierung in die USA gesandt, um dort für einen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zu werben. Später arbeitete er als Diplomat in der Sowjetunion und in Rumänien und diente in Marokko in der französischen Fremdenlegion. Im Zweiten Weltkrieg unterstützte er de Gaulles Exilregierung in London, für die er als französischer Botschafter in China und Japan tätig war.
Die Manipulation von Fotos war in der Sowjetunion eine verbreitete Praxis. So fällt in einem anderen bekannten Beispiel ein weiterer Schachspieler, der als Politiker Karriere gemacht hat, dieser Form der Zensur zum Opfer: Leo Trotzki, langjähriger Kampfgefährte Lenins und nach Lenins Tod politischer Widersacher von Stalin.
Auf dem Foto oben sieht man, wie Lenin einer Gruppe von Arbeitern die Vorzüge der Revolution schmackhaft machen möchte, während Trotzki rechts am Rednerpult lehnt und die Menge mustert. Auf dem unteren Foto predigt Lenin mit gleicher Leidenschaft, aber die Zahl seiner Zuhörer ist kleiner geworden, denn Lenins treuer Co-Revolutionär Trotzki ist aus dem Bild verschwunden.
Diese Beispiele sind typisch: Die sowjetischen Machthaber manipulierten die Wahrheit, wann immer es ihnen opportun erschien. Sie fälschten und verdrehten Fakten, diffamierten und verleumdeten ihre tatsächlichen und vermeintlichen Gegner, oft mit dem Ziel ihrer politischen Liquidation, der nicht selten die physische Liquidation folgte.
Auch das Schach gehorchte diesem Diktat politischer Berichterstattung, wenngleich auf bedeutend harmloseren Niveau. Ein Beispiel für die Diffamierung politischer Gegner mit Hilfe von Andeutungen, Unterstellungen und Verdrehungen von Fakten sind Botvinniks Kommentare zu seiner Partie gegen Bobby Fischer bei der Schacholympiade Varna 1962. Es war die einzige Partie zwischen Fischer und Botvinnik, aber sie war hochbrisant und hatte eine lange Vorgeschichte.
Prolog
Botvinnik, der seinen Weltmeistertitel 1960 gegen Tal verloren hatte, amtierte nach seinem Sieg im Rückkampf 1961 wieder als Weltmeister, hatte aber im Alter von 51 Jahren den Zenit seiner Laufbahn bereits überschritten. Fischer hingegen hielt sich im Alter von 19 Jahren schon für den besten Spieler der Welt, musste aber, nachdem er seit seinem Durchbruch zur Weltspitze als 15-jähriger von einem Erfolg zum anderen geeilt war, beim Kandidatenturnier 1962 in Curacao einen Rückschlag hinnehmen. Fischer war nach seinem Sieg beim Interzonenturnier in Stockholm, das er mit 2,5 Punkten Vorsprung vor Geller und Petrosian gewonnen hatte, als Mitfavorit in Curacao gestartet, wurde dort aber nur Vierter. Er landete ganze 3,5 Punkte hinter Turniersieger Tigran Petrosian und 3 Punkte hinter Keres und Geller, die sich Platz zwei und drei teilten.
Nach dem Turnier machte Fischer die Machenschaften der sowjetischen Spieler für sein Abschneiden verantwortlich. In einem Artikel mit dem Titel How the Russians Fixed World Chess in der amerikanischen Zeitschrift Sports Illustrated vom 20. August 1962, der bald in Deutschland, Holland, Spanien, Schweden, Island und, wenn auch redigiert, sogar in der Sowjetunion nachgedruckt wurde, beschuldigte er Petrosjan, Geller, Keres und Kortschnoi, das Turnier durch abgesprochene Partien manipuliert zu haben. Fischer klagte, bei diesem System, den Herausforderer des Weltmeisters zu ermitteln, hätten Nicht-Sowjets keine Chance, und forderte Botvinnik direkt zu einem Weltmeisterschaftkampf heraus.
Bis heute streiten die Experten, ob Fischers Vorwürfe berechtigt waren oder nur das Gejammer eines erfolgsverwöhnten, verzogenen Bengels, der keine Rückschläge einstecken konnte. Unstreitig ist jedoch, dass Petrosian, Geller und Keres eine Absprache getroffen hatten, alle ihre Partien gegeneinander schnell Remis zu machen. Ob aber diese schnellen Remispartien Teil eines Plans waren, in dem der schwächste sowjetische Teilnehmer gegen den besten sowjetischen Teilnehmer Partien verlieren sollte, wenn Fischer Turniersieger zu werden drohte, oder ob Geller, Petrosian und Keres nur pragmatisch vorgingen, um die 28 Runden in der tropischen Hitze Curacaos durchzustehen, bleibt eine offene Frage. Ihre Strategie hatte jedenfalls Erfolg. Petrosian (+8, =19, -0, durchschnittliche Länge der Partien 31 Züge), Keres, (+9, =16, -2, durchschnittliche Zugzahl 34) und Geller (+8, =18, -1, durchschnittliche Zugzahl 35) belegten die Plätze 1 bis 3. Fischer absolvierte mit durchschnittlich 44 Zügen pro Partien ein deutlich anspruchsvolleres Programm, aber verlor zu viele Partien (+8, =12, -7). Als besonders verhängnisvoll erwiesen sich seine beiden Auftaktniederlagen, die er im Laufe des gesamten Turniers nicht wieder wett machen konnte.
Die Absprache zwischen den drei Erstplatzierten, so wenden Fischers Kritiker ein, mag den drei Sowjets zwar Kraft gespart haben, aber sie erklärt nicht, warum Fischer am Ende ganze 3,5 Punkte weniger als Turniersieger Petrosian erzielte – der, mit anderen Worten, wenn auch nicht ganz einwandfrei und sicher mit zu vielen kurzen Remispartien den Sieg doch verdient hatte.
Doch zweifelsohne hat die Absprache der drei Erstplatzierten das Ergebnis verzerrt und konnte nicht ohne Auswirkungen auf Fischers Psyche bleiben. Durch ihre Kurzremisen sparten die sowjetischen Teilnehmer Kraft, kontrollierten das Turnier und konnten sich darauf konzentrieren, ihren gefährlichsten Rivalen, nämlich Fischer, in Schach zu halten. Selbst, so mochte Fischer denken, wenn es ihm gelingen würde, zu den Führenden aufzuschließen, so könnten sie noch immer absichtlich gegeneinander verlieren, damit der Weltmeistertitel in sowjetischer Hand blieb. War es in jedem Turnier schwer genug, vor Spielern wie Petrosian, Keres und Geller zu landen, so musste dies Fischer in Curacao, wo fünf der acht Teilnehmer Sowjets waren, als unmöglich erscheinen.
Die Partie
Ein halbes Jahr nach Curacao traf Fischer bei der Schacholympiade in Varna in der 11. Runde beim Kampf USA gegen die Sowjetunion doch noch auf Botvinnik. Mit einem Sieg gegen den amtierenden Weltmeister hätte er seine Vorwürfe untermauern können, bei einer Niederlage oder einem Remis behielten diejenigen Recht, die Fischer noch für zu unerfahren und schwach hielten, um Weltmeister zu werden.
In dieser aufgeheizten Stimmung setzten sich Botvinnik und Fischer in Varna am 16. September vor einer Zuschauermenge, die so groß war, dass sie aus dem Turniersaal verbannt werden musste, ans Brett. Die Partie verlief dramatisch und erregte noch Jahrzehnte später die Gemüter. Botvinnik kommentierte sie bald nach der Olympiade, und auch Fischer nahm sie in sein Buch Meine 60 Denkwürdigen Partien auf, um dort Botvinniks Anmerkungen kritisch zu kommentieren. Später, als Fischer schon Weltmeister geworden und sich vom Schach zurückgezogen hatte, überarbeitete Botvinnik seine Kommentare für seine dreibändige Partiensammlung und ergänzte sie um eine Reihe hämischer Bemerkungen über Fischer sowie ein falsch platziertes Zitat. Und Anfang der 80er Jahre legte der 13-jährige Botvinnik-Schüler Kasparov ein Zeichen seines Talents ab, als er die Analysen von Botvinnik verbesserte und die von Fischer widerlegte. Jahre später nahm Kasparow die Partie in die Reihe über seine “Predecessors” auf.
Aus diesen Kommentaren zitiere ich im folgenden relevante Passagen, ausführliche Analysen findet man in den erwähnten Büchern.
Botvinnik,Mikhail – Fischer,Robert James
Mikhail Botvinnik gegen Bobby Fischer, Varna 1962
Schon Botvinniks Einleitung in seiner Partiesammlung lässt keinen Zweifel, worum es ihm in seinen Kommentaren geht: die Herabsetzung seines Gegners. Er schreibt: “Das war meine einzige Begegnung am Schachbrett mit Robert Fischer … . Ich habe bereits oft erwähnt, dass Erfolg im Schach nicht allein vom Talent abhängt, sondern auch von anderen Eigenschaften, darunter der Charakter eines Spielers. Und Fischers Charakter war immer inadäquat, wie der Leser wahrscheinlich zustimmen wird, nachdem er unsere Partie nachgespielt hat.” (Botvinnik’s Best Games, S.177)
Diese Zeilen veröffentlichte Botvinnik, nachdem Fischer bereits Weltmeister geworden war und in den Jahren 1970-72 die gesamte Weltelite in Grund und Boden gespielt hatte. Welche Charaktereigenschaften dafür verantwortlich waren, verrät Botvinnik nicht.
1.c4 g6 2.d4 Sf6 3.Sc3 d5 4.Sf3 Lg7 5.Db3 dxc4 6.Dxc4 0–0 7.e4 Lg4 8.Le3 Sfd7 9.Le2 Sc6 10.Td1 Sb6 11.Dc5 Dd6 12.h3 Lxf3 13.gxf3 Tfd8 14.d5 Se5 15.Sb5 Df6 16.f4 Sed7 17.e5 Dxf4!
Die erste Krise der Partie. Wie er einräumt, hatte Botvinnik diese Entgegnung übersehen: “Eine sehr unangenehme Überraschung – nun mußte Weiß wirklich zu spielen anfangen. Bis zu diesem Punkt brauchte ich mich nur meiner Analyse zu entsinnen, was auch nicht so leicht war. Mir war in Erinnerung, daß die schwarze Dame irgendwo am Königsflügel gefangen würde; und indem ich dieser Spur folgte, schaffte ich es, mir die ganze Variante wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Endlich war alles in Ordnung – auf dem Brett war die vertraute Stellung; dann wurde es plötzlich klar, daß ich in meiner Analyse etwas übersehen hatte, das Fischer mit größter Leichtigkeit am Brett fand. Der Leser kann erraten, daß mein Gleichmut dahin war.” (Botvinnik in Fischer, S.189)
18.Lxf4 Die taktische Rechtfertigung von 17…Dxf4 besteht in 18.Dxb6 De4 19.f3 Dh4+ 20.Lf2 Db4+ nebst …axb6, “zum Zentrum hin”, wie Fischer schreibt. 18…Sxc5 19.Sxc7 Tac8 20.d6 exd6 21.exd6 Lxb2 22.0–0 Sbd7 23.Td5 b6 24.Lf3? Botvinnik sucht immer noch nach seinem seelischen Gleichgewicht, das er trotz aller “Charakterstärke” auch in den nächsten Zügen nicht wiederfindet und deshalb schnell in eine Verluststellung gerät. Nachher kritisierte er den Textzug und empfahl stattdessen 24.Lc4! mit der Idee Tfe1 nebst Te7. 24…Se6 25.Sxe6? Hierzu schreibt Botvinnik: “Weiß verliert völlig den Kopf. Er nahm an, dass die Alternative 25.Lh2 Sd4 26.Lg2 Sf6 noch schlechter für ihn war, aber Geller wies auf 27.Txd4 Lxd4 28.Te1 hin, wonach Weiß gutes Spiel behält. Auch hier war Fischer nicht einverstanden: er setzte die Variante einen Zug länger fort – 28…Lc5. Aber auch wir können die Variante fortsetzen – 29.Sd5.” (Botvinnik’s Best Games, S.179). Der Sinn dieser Anmerkung von Botvinnik bleibt allerdings unklar. Nach 29…Sxd5 30.Lxd5 Lxd6 hat Weiß einfach zwei Bauern und eine Qualität weniger. 25…fxe6 26.Td3 Sc5 27.Te3 e5 28.Lxe5
Hier waren sich Botvinnik und Fischer einig: Schwarz steht auf Gewinn. 28…Lxe5 29.Txe5 Txd6 30.Te7 Td7 31.Txd7 Sxd7 32.Lg4 Tc7 33.Te1 Kf7 34.Kg2 Sc5 35.Te3 Te7 36.Tf3+ Kg7 37.Tc3 Te4 38.Ld1 Td4 39.Lc2 Kf6 40.Kf3 Kg5 “Allgemein gesagt ist das beste Feld für den König d6; dann müßte der Springer nicht den b-Bauern decken, und Schwarz würde durch den Vormarsch der Bauern am Damenflügel gewinnen”, zitiert Fischer aus Botvinniks frühen Kommentaren (Fischer, S.192). In seinen späteren Kommentaren kann sich Botvinnik eine Spitze gegen Fischers Endspielkunst nicht versagen und schreibt: “Ein Endspielspezialist wie Capablanca oder Smyslow hätte seinen König unverzüglich nach d6 geführt, um den Springer zu decken, und der Vormarsch der schwarzen Bauern am Damenflügel hätte die Partie entschieden.” (Michail Botvinnik, S.202). 41.Kg3
41…Se4+? Wie Analysen Kasparovs zeigen, hat Schwarz an dieser Stelle den Gewinn ausgelassen. Fischer zitiert Botvinnik: “Weiß war bereits in Zugzwang: Auf einen Königszug spielt Schwarz …Kh4 und …Se6 nebst …Sf4(xh3); auf Lb1 gewinnt die Antwort …Td1; und wenn der weiße Turm seinen Platz verläßt, dann ist …Tc4 entscheidend. Also hätte Weiß zum Beispiel auf 41….Tb4 42.a3 Td4 43.f3 a5 keine zufriedenstellende Antwort” (Fischer, S.192). Botvinnik weiß auch, warum Fischer so nicht gespielt hat: “Hier zeigen sich die Charakterschwächen meines Gegners. Er nahm an, die Partie sei leicht gewonnen für ihn, und war erzürnt, dass ich weiter spielte, und in seinem Eifer, bereits nach der Zeitkontrolle, trifft er eine übereilte Entscheidung.” (Botvinnik’s Best Games, S.180). Fischers Kommentar über den verpassten Gewinn bleibt nüchterner: “Zwar bin ich damit einverstanden, daß Schwarz gewinnen kann, indem er die Leichtfiguren behält und seine Stellung allmählich verbessert, aber der Textzug sollte zum selben Ergebnis führen, wenn auch nur um Haaresbreite.” (Fischer, S.193). 42.Lxe4 Txe4 43.Ta3 Te7 44.Tf3 Tc7 45.a4 Tc5 46.Tf7 Ta5
47.Txh7! “Diesen Zug habe ich übersehen” zitiert Botvinnik Fischer (Botvinnik’s Best Games, S.181) und fügt hinzu: “Das ist keine Überraschung – nach der Partie stellte es sich heraus, dass mein Gegner die ganze Nacht fest geschlafen hatte.” Dann erzählt Botvinnik eine kleine sozialistische Heldengeschichte und berichtet, wie er die ganze Nacht aufgeblieben ist, um mit Hilfe seiner Mannschaft nach einem Remis zu suchen: “Nach dem Abendessen begann ich meine nächtliche Analyse, eine der längsten in meiner Laufbahn. … Die Zukunft sah düster aus, bis Geller die einzigartige Idee zum Gegenspiel mit 46.Tf7 Ta5 47.Txh7!! fand. Als er mich spät nachts verließ, musste ich nur noch die Einzelheiten dieses Funds ausarbeiten… Um drei Uhr morgens wurde eine logische Fortsetzung für Schwarz entdeckt, und um 4:30h ein tückisches Bauernopfer, der einzige Weg für Weiß, die Partie zu retten. Es war schon 5:30h, als mich der Mannschaftskapitän Furman verließ…” (My Great Predecessors II, S.244). Auf der einen Seite sehen wir also das hart arbeitende Kollektiv mit ihrer “im Kreml brennt noch Licht”-Attitüde, auf der anderen Seite den dekadenten, arroganten jungen Amerikaner, der selig schlummert.
Wie Fischer diese Nacht verbracht hat, ist über vierzig Jahre nach der Partie kaum noch zu ermitteln, man weiß allerdings, dass Fischer schon damals ein ausgesprochener Nachtmensch war und selten vor drei oder vier Uhr morgens zu Bett ging. Man weiß auch, dass Fischer eigentlich fast jede Minute des Tages mit Schach verbrachte, entweder in dem er Partien analysierte oder Blitzpartien spielte. Warum er von diesen Gewohnheiten ausgerechnet am Abend dieser Partie abgewichen sein soll, bleibt ein weiteres Rätsel seines unergründlichen Charakters.
Wie auch immer Fischers Schlafgewohnheiten gewesen sein mögen, fest steht, dass das Zitat, das Botvinnik Fischer in den Mund legt, an der falschen Stelle steht. Fischer selbst schreibt in seinen Anmerkungen zu 47.Txh7: “Dies war die erste Verteidigung, die ich in Betracht gezogen hatte!” (Fischer, S.195).
Das von Botvinnik zitierte Eingeständnis eines Übersehens bezieht sich hingegen auf den 52. Zug von Weiß (siehe weiter unten). Noch merkwürdiger wird dieses Falschzitat dadurch, dass es sowohl in Kasparovs My Great Predecessors als auch in Russians vs. Fischer reproduziert wird – und das, obwohl alle anderen Zitate aus My 60 Memorable Games dort wortgetreu wiedergegeben sind. (Vgl. Kasparov, My Great Predecessors II, S.245 und Russians vs. Fischer, S.115).
47…Txa4 48.h4+! Hier zitiert Kasparov Fischer noch einmal: “Ich hatte hauptsächlich 48.f4+ analysiert, aber Botvinniks Variante ist am besten und enthält auch eine listige Falle” (My Great Predecessors II, S.245). Wobei man sich natürlich fragen kann, warum Fischer 48.f4+ analysiert haben soll, wenn er 47.Txh7 übersehen hatte.
Kf5 49.Tf7+ Ke5 50.Tg7 Ta1 51.Kf3 b5? 52.h5!
Danach ist die Partie endgültig Remis. Botvinnik schreibt: “Hier wurde mein Gegner bleich und dachte lange Zeit nach. … Bobby gab zu, dass er diesen Zug übersehen hatte – was bei ihm sehr selten vorkam.”
Tatsächlich gab Fischer zu, diesen Zug übersehen zu haben. Aber das Eingeständnis schachlicher Fehler war bei Fischer keineswegs so selten, wie Botvinnik behauptet. Im Gegenteil: Liest man Fischers 60 Denkwürdige Partien, so gewinnt man den Eindruck, dass Fischer, so lebhaft er seine Partien auch kommentiert, doch nach Objektivität trachtet – und seine direkten und offenen Anmerkungen bilden einen angenehmen Kontrast zu Botvinniks unterkühlter Boshaftigkeit. Bissige Bemerkungen über seinen Gegner in Varma machte Fischer nur privat. So schreibt er in einem Brief an Bernard Zuckerman: “Botvinnik hätte gegen mich getrost aufgeben können, aber ich fiel auf die offensichtlichste, billigste Falle herein, die man sich vorstellen kann. Die ganze Partie sah er aus, als ob er sterben müsste. Er keuchte, wechselte die Gesichtsfarbe und sah aus, als ob er damit rechnete, auf einer Bahre hinaus getragen zu werden. ABER – als ich patzte und in seine Falle lief, war er wieder der alte Botvinnik. Er plusterte seine Brust auf, stand auf und ging fort, als ob er ein Riese wäre, usw.” (zit. in My Great Predecessors IV, S.306).
52…Ta3+ 53.Kg2 gxh5 54.Tg5+ Kd6 55.Txb5 h4 56.f4 Kc6 57.Tb8! h3+ 58.Kh2 a5 59.f5 Kc7 60.Tb5 Kd6 61.f6 Ke6 62.Tb6+ Kf7 63.Ta6 Kg6 64.Tc6 a4 65.Ta6 Kf7 66.Tc6 Td3 67.Ta6 a3 68.Kg1 ½–½
In seinem Schlusskommentar setzt Botvinnik noch einmal nach: “Hier drückte mir Fischer die Hand und ging mit Tränen in den Augen aus dem Saal.” Dann analysiert der Patriarch des Sowjetschachs die Abbruchstellung noch einmal ausführlich, um am Ende gütig und einem Hauch Selbstkritik zu schreiben: “Wie man sieht, hat nicht nur der junge Fischer diese abgebrochene Partie nachlässig behandelt, Nachlässigkeit zeigte auch ein reifer Großmeister in einer veröffentlichten Analyse.” (Michail Botvinnik, S. 205).
Epilog
Auch nach der Olympiade, die die Sowjetunion gewann – vor Jugoslawien und Argentinien, die USA belegten Platz 4. – kostete Botvinnik seinen Triumph aus. In einem Bericht für die Prawda schrieb er, es “täte ihm sehr leid, dass die USA nicht Zweiter wurden, obwohl sie diesen Platz verdient hatten … und lediglich Fischers Performance verhinderte dies Ergebnis.” (Brady, S.67) Zur Statistik: Fischer holte bei der Olympiade in Varna 11 Punkte aus 17 Partien (+8, =6, -3), das sind 64,7% aller möglichen Punkte. Zum Vergleich: Botvinnik schaffte 8 Punkte aus 12 Partien (+5, =6, -1), das entspricht 66,7% aller möglichen Punkte.
Über Fischers Chancen auf den Weltmeistertitel schreibt Botvinnik: “Dieses Endspiel hatte eine überraschende Wirkung auf die Schachwelt. Robert Fischer hatte bereits etliche Dutzend Partien gegen sowjetische Großmeister gespielt und ohne besonders auffällige Erfolge; nichtsdestotrotz war sein Ansehen außergewöhnlich hoch und viele im Westen unterstützten den Amerikaner in seiner Forderung nach einem Weltmeisterschaftskampf mit mir ohne dass er warten müsste, bis er an der Reihe war. Aber sobald Fischer dieses Endspiel, dass er nicht gewinnen konnte, remisierte, wandten sich viele, viele Leute von ihm ab und Fischer wird nun zweifelsohne warten müssen, bis er an der Reihe ist… Nun gut, er ist erst 19; er hat keinen Grund zur Eile.” (Russians vs. Fischer, S. 117-118).
Fischer hingegen reagierte mit der hilflosen Wut eines 19-jährigen auf diesen erneuten Rückschlag und forderte Botvinnik kurz nach der Olympiade erneut zu einem Wettkampf heraus. Diesmal wollte er ihm sogar zwei Punkte vorgeben. Doch nach dem Remis in Varna konnte Botvinnik dieses beleidigende Angebot lächelnd abwehren: “Wenn Fischer mir zwei Punkte vorgeben möchte, nehme ich dies an; und ich gebe ihm dafür zwei Bauern in jeder Partie vor!”
Auch die sowjetische Fachpresse fiel über Fischer her. So schrieb M. Yudovich in Shakhmaty v SSR:
Viel ist bereits über Fischer gesagt und geschrieben worden, sogar mehr als er trotz seines herausragenden Talents verdient. Leider erhielt Fischer, obwohl hoch begabt, keine ordentliche Ausbildung und hat schlechte Ratgeber.
Mit seiner unzureichenden mentalen Einstellung wurde der amerikanische Champion zu einem Spielball in den Händen von Erzintriganten und er ist bereit, ihr dummes Geschwätz und ihre dummen Lügenmärchen zu wiederholen.
Bei der 15. Schacholympiade in Varna ließ Fischer seine Mannschaft schwer im Stich. In entscheidenden Wettkämpfen spielte er oberflächlich und erlitt etliche schwere Niederlagen, die aus einer Unterschätzung seiner Gegner und seines erstaunlichen Selbstbewusstseins resultierten (Russians vs. Fischer, S.118).
Nach den Enttäuschungen in Curacao und Varna zog sich Fischer jedoch nicht, wie in Russians vs. Fischer oder in My Great Predecessors II behauptet, drei Jahre vom Schach zurück (vgl. Russians vs. Fischer, S. 118 und My Great Predecessors II, 247), sondern spielte lediglich keine internationalen Turniere mehr. Allerdings gewann er 1963/64 die USA-Meisterschaft mit einem Ergebnis von 11 aus 11.
Und ein halbes Jahr nach der Olympiade in Varna schrieb Fischer an Eliot Hearst, der über Curacao und die Olympiade in der amerikanischen Zeitschrift Chess Life berichtet hatte und mit dem Fischer aneinander geraten war, einen Entschuldigungsbrief:
“Lieber Eliot, dies sind nur ein paar Zeilen, um Ihnen zu sagen, dass ich gegen Sie wegen unseres Streits in Varna keinen Groll mehr hege. Ich stand unter großem Stress und habe ein paar sehr alberne und falsche Behauptungen aufgestellt, die ich jetzt bedaure. … Was ein anderes Thema betrifft, so bin ich jedoch nicht erwachsen geworden; die Russen sind die schlimmsten Betrüger der Welt – überall, Schach mit eingeschlossen.” (zit. in My Great Predecessors IV, S. 306).
Die sowjetischen Kommentare zu seiner Partie gegen Botvinnik dürften Fischer kaum von dieser Meinung abgebracht haben.
Quellen:
Mikhail Botvinnik, Botvinnik’s Best Games: Volume 3: 1957-1970, Moravian, Olomouc 2001.
Mikhail Botvinnik, Meine 100 schönsten Partien, Schachverlag Schmaus, Heidelberg 1980.
Frank Brady, Bobby Fischer: Profile of a Prodigy, Dover, New York 1983, [1973].
Bobby Fischer, Meine 60 Denkwürdigen Partien, Schachzentrale Rattmann, Ginsheim-Gustavsburg 2002.
Garry Kasparov, My Great Predecessors II, Everyman, London 2003.
Garry Kasparov, My Great Predecessors IV, Everyman, London 2004.
Dimitry Plisetzky & Sergey Voronkov, Russians versus Fischer, Everyman, London 2005.
Andrew Soltis, Soviet Chess 1917-1991, McFarland 2000.
Jan Timman, Curacao 1962: The Battle of Minds that Shook the Chess World, New in Chess, Alkmaar 2005.
Raj Tischbierek, Sternstunden des Schachs: 30x Olympia, Sportverlag, Berlin 1993.
www.olimpbase.org
Alle Übersetzungen aus dem Englischen stammen von mir.
Ursprüngliche Veröffentlichung am 25. Februar 2006, ChessBase
Siehe auch:
Bobby Fischer: Bücher über einen Mythos
Scheinbar einfach: Bobby Fischer at His Best
Mikhail Botwinnik: Der eigensinnige Patriarch
- Faszination Fischer
- Einfach gut: Michael Steans „Simple Chess“