Aus aktuellem Anlass: Wie inspiriert spielt Carlsen?

carlsen_boredDer WM-Kampf zwischen Vishy Anand und Magnus Carlsen ist vorbei, Carlsen gewann klar mit 6,5:3,5. Nach zehn Artikeln über das Duell zwischen Anand und Carlsen vor dem WM-Match wollte ich eigentlich in den nächsten Tagen ein kurzes Resümee des Wettkampfs ziehen. Dann kam etwas dazwischen. Ein Interview mit Prof. Dr. Robert von Weizsäcker, Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes, das am Sonntag, den 24. November, im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde und auch Spiegel-Online eine Meldung wert war. In diesem Interview zeigt sich von Weizsäcker nicht besonders angetan vom Spiel des neuen Weltmeisters. „Er spielt technisch praktisch fehlerfrei, aber irgendwie uninspiriert, blutlos und fast seelenlos die Partien runter“, meint Fernschachgroßmeister von Weizsäcker über Carlsens Spiel. Habe ich etwas verpasst?
Führt Carlsen die Weltrangliste mit 2870 Punkten und 69 Punkten Vorsprung vor Levon Aronian, der Nummer zwei der Welt, nur deshalb an, weil er wie ein Computer spielt und einfach auf Fehler seiner Gegner wartet? Die sich irgendwann einstellen und von Carlsen gnadenlos ausgenutzt werden?

Was zum Beispiel ist mit seiner Partie gegen Pentala Harikrishna aus dem Tata Steel Turnier in Wijk aan Zee 2013? Carlsen gräbt mit der Ponziani-Eröffnung eine alte Variante aus, opfert dann im Verlauf der Partie zwei Bauern für positionellen Druck und Angriffschancen und verdichtet diese wenig greifbare Kompensation im weiteren Verlauf der Partie zu einem Sieg. Wie uninspiriert ist das denn?

Im gleichen Turnier gelang Carlsen gegen Sergey Karjakin übrigens ein Sieg, der mittlerweile fast ein moderner Klassiker ist. In einem Endspiel mit Turm und ungleichfarbigen Läufern, das von den meisten seiner Großmeisterkollegen als „totremis“ eingeschätzt wurde, opfert Carlsen zwei seiner noch verbliebenen fünf Bauern, um einen Mattangriff mit reduziertem Material zu inszenieren – ein Opfer, das auch im Nachhinein verblüfft und in Erstaunen versetzt.

Interessant auch der erste seiner zwei Siege gegen Boris Gelfand, WM-Herausforderer von 2012, beim Kandidatenturnier 2013. Carlsen spielt im Zentrum, greift am Königsflügel an, opfert am Damenflügel Material, um dann mit einer Reihe taktischer Überraschungen ein besseres Endspiel zu bekommen, in dem er seine Freibauern mit Hilfe eines Figurenopfers zur Dame führt.

Vergessen sollte man auch nicht, dass Carlsen vor der WM schon kurze Siege gegen Anand errungen hat. Ich habe diese Partien im Rahmen der Artikelserie über das Duell zwischen Anand und Carlsen schon erörtert, aber weil es so schön ist, hier noch einmal eine der Partien. Nach wirklich nicht sehr inspirierter Eröffnung, in der Anand zu Ausgleich kommt, opfert Carlsen einen Bauern, um dann fast aus dem Nichts mit dem, wie ich finde, originellen Manöver g4, Sh3, Dh6 einen Angriff zu inszenieren. Anand reagiert ungenau und gibt wenig später bei vollem Brett auf.

Das sind Carlsen-Partien aus den letzten Jahren. Eine Auswahl meiner Ansicht nach gar nicht so langweiliger und „blutloser“ Partien, die Carlsen gespielt hat, als er noch Wunderkind, aber kein Weltmeister war, habe ich 2010 in einem Artikel für ChessBase zusammengesucht.

Doch wie auch immer: Nachdem ich den WM-Kampf zwischen Anand und Carlsen von Anfang bis Ende trotz einiger kurzer Remispartien mit großer Spannung und viel Vergnügen verfolgt habe, freue ich mich schon auf das nächste Turnier mit dem neuen Weltmeister. Nicht zuletzt, weil es spannend ist, zu sehen, wie Carlsen selbst in scheinbar völlig ausgeglichenen Stellungen kämpft, Chancen sucht und findet und damit neue Wege im Schach geht – Wege, die bislang noch kein Großmeister gegangen ist. Denn dazu braucht man mehr als die Hilfe eines starken Schachprogramms.

 

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8 Gedanken zu “Aus aktuellem Anlass: Wie inspiriert spielt Carlsen?

  1. JP_Schmidt

    Dass der Ehrenpräsident des DSB und starke Spieler von Weizsäcker eine so unqualifizierte Einschätzung abgibt, ist wirklich enttäuschend. Erfreulich ist hingegen, dass in den Diskussionsforen der Zeitungen deutlich mehr Sachverstand anzutreffen ist und die Äußerungen fast einhellig zurückgewiesen werden.
    “XY hat zwar eine höhere ELO, aber ich habe das größere Schachverständnis” zählt übrigens zu den beliebtesten Selbsttäuschungen unter Schachspielern.
    Danke für die schöne Partienauswahl, es ließen sich noch viele weitere nennen.

  2. Moutard

    Vielen Dank für die Vorbereitung des WM-Kampfes! Und auch deine Prognose hat gestimmt.
    Carlsen uninspiriert?
    Das ist fast komisch und beruht auf einer optischen Täuschung. Denn was bei Carlsen “langweilige Gewinnpartien” sind, waren bei Kramnik, Leko, Anand und Gelfand langweilige Remispartien. (Und wenn etwas uninspiriert ist, dann Remispartien, die bis eine Minute vor dem Schlusspfiff schon längst ausbaldowert waren.) Und von wegen langweilig: Beim bloßen Live-Mitverfolgen am Bildschirm spürte man doch, wie unerhört bärenstark Carlsen diese scheinbar einfachen Stellungen spielte, die Kramnik und Konsorten längst in den Figurenkasten geräumt hätten. Jeder Spieler weiß, wie man sich nach vier, fünf Stunden Spielzeit fühlt. Und dann legt der erst los!! Respekt.
    Und was lernen wir hieraus? Wieviel Spiel auch in einer ausgeglichenen Stellung mit je einem König, einem Turm und einem Läufer plus ein paar Bäuerchen ist. Und wie einmalig komplex unser Lieblingsspiel ist, wenn das denn so ist.

    Interessant wäre übrigens, was Carlsen im Schach 960 leisten würde.

    1. Mabuse

      @Moutard

      In Allem gebe ich Dir Recht – bis auf Deine Meinung bezüglich Kramnik. Hier stimmt Deine Kritik nur teilweise. Denn Kramnik versucht seit seinem letzten verlorenen WM-Kampf sichtlich seinen Stil zu ändern, kämpferischer und risikoreicher – auch mit Schwarz – zu spielen. Man schaue sich nur seine Partien in der russischen Landesmeisterschaft an.

      Das Kramnik ab und an(!) vielleicht immer noch mal ein unausgekämpftes Remis einschiebt, muß man ihm außerdem schon deshalb nachsehen, da er mittlerweile in die Jahre kommt (38) und so ab und an eine Verschnaufpause in einem harten Turnier braucht. Er kann nicht mehr ständig unter Dauerdampf wie der Jungspund Carlsen agieren. Er muß sich seine Kräfte anscheinend einteilen.

      Ich erinnere daran, dass Kramnik sich nach der Erringung des Weltmeistertitels für eine längere Zeit aus gesundheitlichen Gründen recht rar auf der Schachbühne machte. Er hatte mit einer rheumatischen Erkrankung zu kämpfen, wie er später bekannt gab. Er scheint mir, im Gegenteil zu seiner äußeren Erscheinung (sehr groß, kräftig, halt “russischer Bär”), nicht die stärkste Physis mitzubringen. Eine Physis, die laut den Experten auch im Schach auf höchsten Level unabdingbar ist, um immer jede Partie mit Volldampf und unablässiger Konzentration zu bestreiten. Warum wohl hat man beim WM-Kampf Carlsen gegenüber Anand allein schon aufgrund des Altersunterschiedes größere Chancen eingeräumt?

  3. Gerhard

    Zu den merkwürdigen Ansichten von Prof. Dr. Robert von Weizsäcker muss ich Stellung nehmen. Selten haben mich die Äußerungen eines Funktionärs mehr gewundert und auch geärgert. Man fragt sich, ob der starke Fernschachspieler und Fernschach-Großmeister eine andere Wahrnehmung hat als der Rest der Schachwelt. Mich erinnert seine Sichtweise, Carlsen habe „uninspiriert und blutleer“ gespielt und er habe nicht das beste Schachverständnis an die folgende, vielen Schachspielern bekannte Geschichte:

    “Da haben wir, was vielen zur Leitschnur dienen mag, den Bericht von dem Zweikampf des gefürchteten Kaffeehausspielers Burletzki überliefert bekommen, der, es soll im Jahre 1908 gewesen sein, aber die Erinnerung daran will nicht verblassen, mit dem süddeutschen Meister Köhnlein einen Wettkampf auf 6 Gewinnpartien ausmachte. Er ging mit starkem Selbstvertrauen und Ichgefühl (das -ch- sprach er mit lautem Gaumenlaut aus) in den Kampf, aber die erste Partie gewann Köhnlein.
    Burletzki: Ich habe einen dummen Fehler gemacht.
    Die zweite Partie gewann Köhnlein.
    Burletzki: Alle Partien kann man nicht gewinnen.
    Die dritte Partie gewann Köhnlein.
    Burletzki: Ich bin heute nicht in guter Form.
    Die vierte Partie gewann Köhnlein.
    Burletzki: Er spielt nicht schlecht.
    Die fünfte Partie gewann Köhnlein.
    Burletzki: Ich habe ihn unterschätzt.
    Die sechste Partie gewann Köhnlein.
    Burletzki: Ich glaube, er ist mir ebenbürtig.”
    (Beheim-Schwarzbach: Lobrede auf die Besiegten, in Knaurs Schachbuch)

    Ich frage mich, was den Ehren-Präsidenten des Deutschen Schachbundes dazu veranlasst, sich im Stil eines Kaffeehausspielers zu äußern.

    “Carlsen hat gewonnen, weil er der bessere Sportler und nicht der bessere Schachspieler ist.“
    Dieser Satz von Herrn von Weizsäcker hat mich so richtig zum Staunen gebracht und wütend gemacht! Hab ich da etwas verpasst? Kämpft nicht der Deutsche Schachbund als unser Verband, kämpfen nicht wir Schachspieler alle darum, dass Schach als Sport anerkannt wird? Warum ist der Deutsche Schachbund eigentlich Mitglied im DOSB, dem Deutschen Olympischen SPORT Bund, möchte ich gerne Herrn von Weizsäcker fragen. Sind seine Äußerungen nicht sogar schädlich im Hinblick auf Mittel aus der SPORT Förderung, auf die Schachverbände und –Vereine angewiesen sind? Hat Prof. Dr. Robert von Weizsäcker als Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes nicht die Pflicht, Schaden von seinem Verband und vom deutschen Schach insgesamt abzuwenden?

    Er sollte noch einmal in Ruhe über seine Äußerungen nachdenken. Vielleicht sollte er sogar darüber nachdenken, ob es nicht besser wäre, als Ehrenpräsident zurück zu treten.

  4. Pingback: Si tacuisses … | Danke, Gedanke!

  5. Pingback: Uninspiriert, blutlos, seelenlos | acepoint's home

  6. Moutard

    Hallo, dieser Artikel hat schon ein paar Tage auf dem Buckel, aber die Diskussion könnte ja nach der aktuellen WM weitergehen … Und dann bin ich auf folgendes Zitat gestoßen:

    “Lasker had noticed signs of uncertainty in Steinitz’ handling of “simplified” middlegames, without Queens. Recognizing the champion’s superiority in managing a full army of pieces, Lasker deliberately sought early Queen exchanges. This strategy certainly worked in Philadelphia.” (http://www.chessgames.com/perl/chess.pl?tid=53818)

    Und in der Tat hat Lasker seinen WM-Sieg von von 120 Jahren seinen “blutleeren” Endspielen zu verdanken.

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