Verspielt, witzig, gut: Gary Dexters „Der Marodeur von Oxford“

marodeur von oxford cover-teaserDas Cover überrascht. Vor dunklem Hintergrund sieht man eine Frau mit langen Schnürstiefeln in aufreizender Pose. Hatte Gary Dexter, Autor souverän-lässiger literarischer Kolumnen über Shakespeare & Company genug von gescheiten Glossen über Titelgeschichten und die Geheimnisse der Weltliteratur? Hat er einen Blick auf die Verkaufszahlen von 50 Shades of Grey oder Stieg Larssens Lisbeth Salander Trilogie Verblendung, Verdammnis, Vergebung geworfen und wollte seinen ersten Roman mit viel „Sex & Crime“ auch zu einem Bestseller machen? Tatsächlich geht es im „Marodeur von Oxford“ um Sex und Verbrechen – zumindest auf den ersten Blick.

Denn Hauptfigur des Buches ist der Sexualwissenschaftler Henry St. Liver, der im viktorianischen London Ende des 19. Jahrhunderts lebt und im Stil von Sherlock Holmes Kriminalfälle löst. Als St. Livers Dr. Watson fungiert Olive Salter, Ich-Erzählerin des „Marodeurs“. Sie wurde in England geboren, wuchs in Australien auf und verwandelte ihre Erlebnisse dort in „Die Geschichte einer australischen Farm“. In diesem Buch, das Salter auf Anraten ihrer Verleger, die „fanden, ein männlicher nom de plume verkaufe mehr Bücher“ unter dem Pseudonym Roderick Iron veröffentlicht hat, geht es, wie Salter erklärt, um die „wahren Geheimnisse zwischen Mann und Frau“. Den Weg vom sonnigen Australien ins kalte London hat die junge Autorin unternommen, um ihre literarische Karriere voranzutreiben und Medizin zu studieren.

Doch dazu kommt es nicht, denn in London lernt sie Henry St. Liver kennen. Bald wird sie seine ständige Begleiterin und schreibt auf, wie er Kriminalfälle löst. Acht davon schildert sie im „Marodeur von Oxford“ und in allen geht es um besondere Formen der menschlichen Sexualität wie zum Beispiel Fußfetischismus, eine übergroße Leidenschaft für Frauenhaar, den unkontrollierbaren Zwang, sich in Kirchen zu „entblößen“ oder einen Hang zu Männern, die im Gefängnis sitzen.

Aber natürlich sind Henry St. Liver und Olive Salter keine realistischen Charaktere, sondern Kunstfiguren, die Dexter nutzt, um ein heiteres literarisches Verwirrspiel voller Ironie und Anspielungen zu treiben. Das beginnt damit, dass „Der Marodeur von Oxford“ zwar vorgibt, ein Krimi zu sein, doch die in dem Buch vorgestellten Vergehen harmlos sind. Es fließt kein Blut, niemand wird ernsthaft verletzt, die überführten „Täter“ werden nicht bestraft, sondern man akzeptiert ihre Vorlieben, die sie zu ihren „Verbrechen“ getrieben haben.

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Gary Dexter (Foto: Isambard Dexter)

Auch beim Thema Sex wahrt „Der Marodeur von Oxford“ Zurückhaltung. Henry St. Liver spricht zwar gerne ausführlich, kenntnisreich und wissenschaftlich über verschiedene und ungewöhnliche Formen menschlicher Sexualität, aber wer durch das Cover des Buches verlockt nach saftigen Passagen sucht, wird enttäuscht werden. Das geht soweit, dass Olive Salter zwar immer behauptet, die „wahren Geheimnisse zwischen Männern und Frauen“ schildern zu wollen, doch nie verrät, in welchem Verhältnis sie denn eigentlich zu Henry St. Liver steht, mit dem sie nicht nur zusammenarbeitet, sondern später auch zusammenlebt.

Auch mit den Namen treibt Dexter Scherz. So hat, wie Herausgeber Thomas Wörtche im Nachwort erläutert, eine Autorin namens „Olive Emilie Albertina Schreiner aus Wittenberge, Basutoland“ tatsächlich gelebt. Sie war „Feministin und Sozialistin, gehörte zum Gründungsnukleus der Labour Party und vor allem Schriftstellerin. Ihr großer Erfolg: The Story of an African Farm, verfasst unter dem Pseudonym Ralph Iron.“

Was Anspielung, was Scherz, was ironischer Kommentar ist, inwieweit die historische Olive Schreiner noch weitere Parallelen zu Olive Salter aufweist, wo Dexter die Wahrheit schreibt oder sich literarische Freiheiten erlaubt, ist hier, wie so oft im Buch, nicht immer klar. Ein weiteres Beispiel dafür liefert der Gastauftritt Oscar Wildes, der Henry St. Liver um Hilfe bittet, um nach einem Freund von ihm zu suchen.

Als Henry St. Liver und Olive Salter zu einer Gesellschaft mit Freunden und Bekannten des berühmten Theaterautoren eingeladen werden, verrät ihnen John Gray, seines Zeichens Privatsekretär –„einer von vielen“ wie er selber sagt – Wildes und Autor von Gedichten mit so schönen Titeln wie „Mein’ Liebe krankte bis zum Hass“ und „Ranzig sind die Butterblumen“, dass der in seinen Stücken so geistreich wirkende Wilde in Gesellschaft kaum je etwas sagt. Nun könnte man meinen, all das sei erfunden, vielleicht, um zu zeigen, wie sich das Image eines Autors von der tatsächlichen Person unterscheidet. Doch wie Richard Ellmanns Oscar Wilde Biographie (Richard Ellmann, Oscar Wilde, Penguin 1987) verrät, hatte Wilde tatsächlich eine Zeitlang einen dichtenden Privatsekretär und Liebhaber namens John Gray, allerdings schildert Ellmann auch, wie geistreich, schlagfertig und witzig Wilde sein konnte und war.

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Cover der Richard Ellmann Biographie über Oscar Wilde

Solche Scherze und Pointen ziehen sich durch das gesamte Buch. So schreibt die immer an irgendeiner eingebildeten oder tatsächlichen Krankheit leidende Salter über ihren kurzzeitigen Liebhaber Karl Keane: „Karl war in so mancher Hinsicht der ideale Mann für mich: viril, leidenschaftlich, gutaussehend, politisch radikal, furchtlos darin, seine Meinung zu sagen – und wie ich später erfuhr, litt er an einer zehrenden Krankheit, die ihn noch in diesem Jahr töten würde.“

Oder sie erwähnt in einer Fußnote die „kleine Sache mit dem erstickten Oberbeamten Kitwan. Ein faszinierender Fall: Er wurde mithilfe des Mondkalenders gelöst und dank der Tatsache, dass sich in der Tasche des Oberbeamten ein Abschiedsbrief fand, den seine Frau gegengezeichnet hatte.“

Aber trotz all der amüsanten und witzigen Pointen, der Harmlosigkeit der Verbrechen und des leicht gestelzten und ein wenig umständlichen Plaudertons Olive Salters, der wie eine Parodie des Stils von Sir Arthur Conan Doyle, dem Schöpfer von Sherlock Holmes wirkt, aber keineswegs für viel Action sorgt, entwickeln die Erzählungen eine eigenartige Spannung, die dazu führt, dass man gebannt und bestens unterhalten verfolgt, wie Henry St. Liver seine Fälle löst, während Gary Dexter im Hintergrund amüsiert lächelnd literarische Fährten legt, unauffällig für sexuelle Toleranz und Gelassenheit wirbt und gekonnt die Fäden zieht. Virtuos, witzig und mit großer Meisterschaft.

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Der Marodeur von Oxford
und andere Geheimnisse aus dem Fallbuch von Henry St Liver
Mit einem Nachwort von Thomas Wörtche
Diaphanes, 288 Seiten, 16,95 Euro.

Natürlich lebt ein solcher Text auch von der Übersetzung. Die ist in diesem Fall sehr gelungen und Zoë Beck zu verdanken.

Siehe auch: Titelgeschichten: Gary Dexters Why not Catch-21?

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