Bobby Fischer: Bücher über einen Mythos
Bobby Fischer wurde am 9. März 1943 im Michael Reese Hospital in Chicago geboren. Seine Mutter, Regina Fischer, war alleinerziehend und damals obdachlos, seine ältere Schwester Joan lebte bei ihrem Großvater Jacob Wender, dem Vater von Regina. Bald nach Bobbys Geburt holte Regina ihre Tochter wieder zu sich und zog auf der Suche nach Arbeit mit ihren beiden Kindern nach Kalifornien, Idaho, Oregon, Illinois und Arizona. 1949 kam sie nach New York. Dort lernte Bobby Schach und wurde später der vielleicht beste Spieler aller Zeiten. Zur Erinnerung an Fischers 71. Geburtstag habe ich letztes Jahr in der April-Ausgabe 2014 der Zeitschrift Schach einen Artikel über deutschsprachige Bücher zum Thema Fischer veröffentlicht. Zum 72. Geburtstag des umstrittenen Genies erscheint dieser Artikel jetzt mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Schach hier im Blog.
Bobby Fischer in der (deutschsprachigen) Schachliteratur
Über keinen Schachspieler ist so viel geschrieben worden wie über Robert James Fischer. Aus gutem Grund: sein Schach war brillant, seine Persönlichkeit schillernd, sein Leben faszinierend und tragisch zugleich.
1943
Am 9. März wird Bobby in Chicago, Illinois, als zweites Kind von Regina und Hans Gerhardt Fischer geboren. Seinen leiblichen Vater hat er nie kennengelernt, spätere Entdeckungen legen nahe, dass es ein ungarischer Physiker namens Paul Nemenyi war.
1943-51
Bobbys Kindheit ist von Armut und häufigen Umzügen geprägt. Schach lernt er im Alter von sechs Jahren von seiner älteren Schwester Joan.
1951-56
Fischers offizieller Eintritt in die Schachwelt datiert auf den 17.1.1951. Bei einer Simultanveranstaltung unterliegt er dem amerikanischen Meister Max Pavey. Der Schachtrainer Carmine Nigro wird auf ihn aufmerksam und lädt ihn in den Chess Club Brooklyn ein. Bald spielt Fischer in jeder freien Minute Schach und studiert alle Bücher, derer er habhaft werden kann. Er ist ständiger Gast im Marshall und Manhattan Chess Club.
1956-59
Seinen Durchbruch feiert Fischer mit 13 Jahren: beim Lessing-Rosenwald-Gedenkturnier 1956 in New York gewinnt er eine brillante Partie gegen Donald Byrne, die um die Welt geht. Mit 14 wird Fischer zum ersten Mal USA-Meister (insgesamt gewann er den Titel acht Mal, 1963/1964 mit 11/11), mit 15 wird er zum damals jüngsten Großmeister aller Zeiten gekürt.
1959-67
Im Kandidatenturnier 1959 belegt Fischer den 5./6. Platz, trotz seiner Jugend gehört er bereits zu den besten Spielern der Welt. 1962 in Curacao wird er als einer der Favoriten gehandelt, belegt jedoch hinter Petrosjan, Geller und Keres nur Platz vier. Er glaubt an einen Remispakt der Sowjets und fühlt sich betrogen. Erst zum Interzonenturnier 1967 in Sousse kehrt er in den WM-Zyklus zurück, tritt jedoch in Führung liegend nach Streitigkeiten mit den Organisatoren zurück.
1970-72
1970 startet Fischer einen neuen Anlauf auf den Schachthron – diesmal ist er von Erfolg gekrönt. Auf dem Wege zum Titelmatch gewinnt er 20 Partien in Folge: die letzten sieben beim Interzonenturnier in Palma de Mallorca 1970, Mark Taimanow und Bent Larsen besiegt er in den Kandidatenkämpfen jeweils mit 6-0, und schließlich bleibt er auch in der ersten Partie des Kandidatenfinales siegreich. Dort beherrscht er Petrosjan mit 6,5-2,5. Und auch die letzte sowjetische Bastion hält nicht stand: In Reykjavik besiegt Fischer in einem mehrere Male vor dem Abbruch stehenden Match Titelverteidiger Spasski mit 12,5-8,5 und ist der elfte Weltmeister der Schachgeschichte!
1972-92
Nach dem Gewinn des WM-Titels absolviert Fischer noch einige öffentliche Auftritte, bevor er in der Versenkung verschwindet. Er zieht sich vom Turnierschach zurück und verzichtet 1975 auch darauf, seinen Titel gegen Karpow zu verteidigen. In den folgenden Jahren sorgte Fischer nicht mehr mit seinem Schach, sondern vor allem mit antisemitischen Hasstiraden für Aufmerksamkeit.
1992
Fischer kehrt noch einmal ans Schachbrett zurück und spielt 20 Jahre nach dem WM-Kampf in Reykjavik ein mit 5 Millionen US-Dollar dotiertes „Revanchematch“ gegen Spasski. Der Wettkampf findet in Jugoslawien statt, das wegen des damals herrschenden Bürgerkriegs mit einem US-Embargo belegt worden war. Fischer verstößt dagegen und kann fortan nicht mehr in die USA zurück
2004-08
Am 13. Juli 2004 wird Fischer am Flughafen Tokio verhaftet. Unterstützern gelingt es, ihm die isländische Staatsbürgerschaft verleihen zu lassen. Er wird im März 2005 aus der Haft entlassen und kann nach Island ausreisen, wo er den Rest seines Lebens verbringt.
2008
Fischer stirbt am 17. Januar 2008 im Alter von 64 Jahren –genau 57 Jahre nach seiner Simultanpartie gegen Max Pavey.
Im Folgenden gebe ich einen – nicht auf Vollständigkeit bedachten – Überblick über die wichtigsten auf Deutsch erschienenen Bücher über das Phänomen „Fischer“. Artikel, Zeitschriften, CDs, DVDs und Videoclips habe ich dabei nicht berücksichtigt, mir allerdings einige wenige Schlenker in den englischsprachigen Bereich erlaubt.
Eines der meistverkauften Schachbücher, wenn nicht gar das meistverkaufte überhaupt, ist Bobby Fischer lehrt Schach, ein Anfängerbuch mit 275 einfachen Aufgaben. Fischer leiht dem Titel zwar seinen Namen, doch geschrieben haben das Buch wahrscheinlich ausschließlich die als Co-Autoren genannten Stuart Margulies und Donn Mosenfelder. Kaum etwas deutet darauf hin, dass Fischer den Schachkurs für Anfänger konzipiert hat.
Ganz sicher aber ist er der Autor eines der besten Schachbücher aller Zeiten: My Sixty Memorable Games, einer 1969 veröffentlichten Partiesammlung. Die Einleitungen zu jeder Begegnung schrieb der amerikanische Großmeister Larry Evans.
Die erste deutsche Übersetzung (Meine 60 Denkwürdigen Partien) erschien 1972 im Verlag Dr. Eduard Wildhagen, eine Neuübersetzung von Matthias Vettel kam 2002 bei Rattmann heraus.
Mittlerweile ist das Buch fast 50 Jahre alt, aber die Analysen wirken unverändert frisch und originell. Bei den häufig idiomatisch eingefärbten Kommentaren meint man Fischer selbst sprechen zu hören, überall klingt seine Schachbegeisterung an. Erfreulich, und in Anbetracht von Fischers Egomanie im wirklichen Leben auch überraschend, ist die Tatsache, dass er nicht nur Gewinnpartien in den Band aufgenommen hat, sondern auch drei seiner Niederlagen und einige Remispartien zeigt.
Reykjavik 1972
Einen Nachteil hat Fischers Buch allerdings: Es endet mit der Partie gegen Leonid Stein beim Interzonenturnier in Sousse 1967. Seinen erfolgreichen Ansturm auf den Schachthron muss man anderenorts nachvollziehen. Der Weltmeisterschaftskampf gegen Boris Spasski in Reykjavik1972 löste einen wahren Boom aus, Zeitungen in aller Welt berichteten darüber, Millionen von Menschen interessierten sich plötzlich für Schach. Entsprechend viele Bücher wurden über das Match herausgebracht. Eine lebhafte Darstellung, die das Drama, das Fischer in Reykjavik (und davor) mit seinen Launen, seinen Kapriolen und seinen nicht enden wollenden Forderungen inszenierte, lebendig werden lässt, ist Svetozar Gligoric’ Fischer-Spasskij: Schachmatch des Jahrhunderts (Droemer Knaur Verlag 1972).
Gligoric weilte vor Ort, sein Buch war das erste, das nach dem Wettkampf erschien. Die amerikanische Originalausgabe, die er zusammen mit David Levy geschrieben hatte, war „bereits auf dem Weg zur Druckerpresse, bevor das Endergebnis offiziell verkündet worden war und stand in New Yorker Buchläden 24 Stunden nach dessen Verkündung zum Verkauf. […] Die Auflage von einhunderttausend Stück war schnell ausverkauft.“ (Edmonds/ Eidinow, Bobby Fischer Goes toWar: How the Soviets Lost the Most Extraordinary Chess Match of All Time, HarperCollins 2004, S.307, hier und in der Folge meine Übersetzung).
Auch Rudolf Teschner (Fischer gegen Spasski: Die vollständigen Partien der Schach-Weltmeisterschaft in Reykjavik, Goldmann 1972), Theo Schuster (Schachgenie Fischer: Sein Weg zur Weltmeisterschaft, Franck’sche Verlagshandlung 1973) und Ludek Pachman (Reykjavik 1972: Der Titelkampf Fischer-Spasskij, Rau Verlag 1972) veröffentlichten Bücher über das Match. Sie enthalten jeweils eine knappe Vorgeschichte, Porträts der Kontrahenten sowie Kommentare zu den Partien und sind aus heutiger Sicht vor allem deshalb interessant, weil sie zeigen, wie Fischer damals gesehen wurde.
So schreibt Pachman über Fischer: „In der ganzen Schachgeschichte gibt es kaum eine so umstrittene Persönlichkeit wie Bobby Fischer. Er ist seltsam, eigenartig, unberechenbar. Es muß dem künftigen Historiker überlassen bleiben, sein Charakterbild zu zeichnen. […] Vielleicht erlebt die Schachwelt eine Wandlung dieser Koryphäe, vielleicht wird Bobby erst nach Erreichen seines ersehnten Ziels lebensreif. […] Er ist da und bleibt auch da, weil er keinen Gegner in der Welt hat und auch in der nahen Zukunft kein Gegner zu vermuten ist. Die Entwicklung eines Schachstars dauert wenigstens ein Jahrzehnt, und so heißt der Weltmeister der siebziger Jahre R. Fischer.“ (Pachman, S. 74)
2004 veröffentlichten die beiden englischen Journalisten David Edmonds und John Eidinow das oben schon erwähnte Bobby Fischer Goes to War, einen gründlich recherchierten und packend geschriebenen Rückblick auf das Match, der vor allem die politischen Hintergründe analysiert. Die Partien werden hier nicht beleuchtet.
Die deutsche Fassung erschien 2007 unter dem Titel Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann: Die ungewöhnlichste Schachpartie aller Zeiten bei DVA und im Fischer-Taschenbuch Verlag. Die beiden renommierten Übersetzer Klaus Timmermann und Ulrike Wasel zeigten sich hier bei den Schachbegriffen nicht immer sattelfest.
Eidinows und Edwards Blick auf Fischer ist kritisch. So zitieren sie den österreich-ungarischen Schriftsteller und Essayisten Arthur Koestler, der ebenfalls ein Buch über den Wettkampf in Reykjavik geschrieben hat, und darin für Fischer die Bezeichnung „Mimofant“ prägte: „Ein Mimofant ist eine hybride Spezies: eine Mischung aus einer Mimose und einem Elefanten. Ein Angehöriger dieser Spezies ist empfindlich wie eine Mimose, wenn es um seine eigenen Gefühle geht, aber trampelt dickhäutig wie ein Elefant über die Gefühle der anderen hinweg.“ (Edmonds/Eidinow, S. 24).
Den Wettkampf sehen Edmonds und Eidinow „im Wesentlichen“ als „eine Tragödie. Was, wie von Spasski erhofft, ein Schachfest hätte sein können, bleibt durch das pathologisch manipulative Verhalten des Herausforderers, die Panik der Offiziellen und den psychologischen Zusammenbruch des Titelverteidigers ebenso im Gedächtnis wie durch die Qualität der Partien.“ (ebendort, S. 310).
Biographisches
Die meisten Bücher, die sich mit Fischer beschäftigen, zeichnen ein freundlicheres Bild von ihm. Die Holländer Hans Kramer und S. H. Postma veröffentlichten 1966 unter dem Titel Das Schachphänomen Robert Fischer (Variant 1982, Erstauflage 1962) eine Biographie Fischers, in dem sie die Laufbahn des Amerikaners anhand von 108 kommentierten Partien nachzeichnen.
Den Auftakt macht die Schönheitspartie gegen Donald Byrne von 1956, den Schlussakkord setzt sein Sieg gegen Smyslow beim Capablanca Memorial 1965, an dem Fischer – der aus politischen Gründen nicht nach Kuba reisen durfte – per Fernschreiber teilnahm. Lesenswert ist das charmant geschriebene Buch auch heute noch. Vor allem, weil es daran erinnert, welch große Hoffnungen man in den Schachspieler Fischer einst setzte. Seinen Sieg beim Interzonenturnier 1962 kommentieren die Autoren so: „Was die menschliche Seite betrifft, ist es vom pädagogischen Standpunkt natürlich ganz falsch, einen Jungen von 15 Jahren nach siebenjährigem Schulbesuch, wenn auch mit einem unvorstellbar großen Schachtalent, in die weite Welt zu schicken. Die schlechten Folgen davon waren in der ersten Zeit deutlich zu sehen. Jedermann wird aber zugeben, daß Fischer schon aufgeholt hat und im Begriff ist, sich zu einer anziehenden sportlichen Persönlichkeit zu entwickeln und vor allem zu einem sehr starken Schachspieler. Man kann von Fischer wirklich nicht sagen, daß er seine Talente nicht genutzt hätte.“ (Kramer/Postma, S. 241).
Unter einem ähnlichen Titel, nämlich Schach-Phänomen Bobby Fischer, erschien 1973 im Copress-Verlag eine weitere Biographie. Als Autor fungierte diesmal Aleksander Pasternjak, ein slowenischer Journalist, der Fischers Weg bis zum Gewinn des Titels mit einem Hauch zu viel Pathos beschreibt. Ein Beispiel: „Fischer eilte mit schnellen Schritten weg von der Stätte seines Triumphs, […] in seine Welt der absoluten Isolation, wo er mit beinahe dämonischer Beharrlichkeit das Schachmosaik zusammenfügt, in dem persönliche Geheimniskrämerei und Schachrealismus zu einer unglaublichen Kombination zusammenfließen.“ (Pasternjak, S. 137). Dafür enthält das Buch schöne Fotos von Fischer und Spasski, viele Details über den Wettkampf in Reykjavik sowie einige kommentierte und 245 unkommentierte Partien Fischers.
Nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft machte es Fischer seinen Anhängern und Fans immer schwerer, ihn zu bewundern, denn er zog sich vollständig vom Turnierschach und aus der Öffentlichkeit zurück. 1975 verzichtete er sogar auf die Titelverteidigung gegen Karpow und ist bis heute der einzige Weltmeister der Schachgeschichte, der seinen Titel kampflos verlor.
Zahlreiche, durchaus lukrative Angebote, Werbung für bestimmte Produkte zu machen oder Schaukämpfe zu spielen, lehnte Fischer regelmäßig ab. Die Verhandlungen folgten dabei stets dem gleichen Muster: Erhielt er ein Angebot, witterte er Betrug und hatte Angst, ausgenutzt und betrogen zu werden. Also lehnte er ab oder stellte zusätzliche Forderungen. Wurden diese erfüllt, war Fischer nicht besänftigt und schraubte seine Forderungen weiter nach oben – bis alle Verhandlungen scheiterten.
Mit einer Ausnahme. 1992 stimmte Fischer zu, zwanzig Jahre nach Reykjavik noch einmal gegen Spasski zu spielen. Gelockt wurde er von einem Preisgeld von fünf Millionen Dollar, von denen zwei Drittel an den Sieger gingen. Trotz des herrschenden Bürgerkrieges fand das Match auf der jugoslawischen Ferieninsel Sveti Stefan und in Belgrad statt, als Finanzier des Wettkampfs fungierte der zwielichtige Bankier Jezdimir Vasiljevic.
Fischer war zwar 1975 nicht gegen Karpow angetreten und damit nicht mehr Weltmeister, aber er selbst sah das anders. Nicht er, sondern Karpow habe den Wettkampf verweigert, weil dieser bzw. die FIDE nicht auf seine Forderungen betreffs der Wettkampfregularien eingegangen waren. Fischer bestand darauf, das Match gegen Spasski „Revanchematch um die Schachweltmeisterschaft“ zu nennen und nach den Regeln zu spielen, die Fischer 1975 für seinen Wettkampf gegen Karpow gefordert hatte: Gespielt wurde eine unbegrenzte Zahl von Partien, Sieger war, wer als erster zehn Partien gewonnen hatte. Bei einem 9-9 wäre der Titelverteidiger Weltmeister geblieben. Fischer gewann den Rückkampf nach 20jähriger Pause mit 10-5, fünfzehn Partien endeten Unentschieden.
Als einziger deutscher Journalist war Dagobert Kohlmeyer vor Ort. Seine Erlebnisse schilderte er (als Co-Autor wird Manfred von Fondern genannt) in Bobby Fischer: Ein Schachgenie kehrt zurück (BeyerVerlag 1992). Kohlmeyer ist bekennender Fischer-Fan und hält sich mit Kritik über die Umstände des Kampfes und Fischers gewohnt bizarres Verhalten weitgehend zurück, tadelt jedoch Kasparow für „Äußerungen […] unter der berühmten Gürtellinie“. Der damals amtierende Weltmeister war vom SPIEGEL zu dem Wettkampf befragt worden und äußerte sich u. a. so: „Fischer, vorausgesetzt er wäre geistig normal, müßte enttäuscht sein von seinen Leistungen.“ Oder: „Fischer ist zu unbedeutend, um hoheWellen zu schlagen […] die Qualität (seiner Partien) war niedrig, in jedem Spiel gab es große Fehler […] Ich sehe nichts Interessantes für mich.“ (Kohlmeyer, S. 156).
Kohlmeyers Antwort auf seine selbstgestellte Frage „Welche erste Bilanz kann gezogen werden, was bleibt für die Annalen der Schachgeschichte festzuhalten?“ fällt verhalten positiv aus: „Da ist zunächst Bobby Fischers Comeback, mit dem nach so langer Zeit eigentlich nicht mehr zu rechnen war. […] Da sind einige spektakuläre Partien, wie die 1., die 7., die 11., die 16. oder 25. – in denen der Exweltmeister seine alte einsame Klasse zeigte. Da waren aber auch Schwächen und Fehlgriffe zu beobachten, die nach so langer Wettkampfpause kein Wunder sind. […] Einen Gegner wie Spasski, der gerade zu den ersten 100 der Weltrangliste zählt, konnte Fischer in Schach halten. […] Gegen die jüngere Garde, die sehr viel bissiger spielt, […] dürfte Bobby Fischer es schwerer haben als gegen seinen alten Freund Boris Spasski, von dem man […] sehr oft den Eindruck hatte, er wolle seinem einstigen Bezwinger nicht allzu weh tun.“ Kohlmeyers abschließendes Urteil lautet: „Sveti Stefan und Belgrad 1992 waren ganz sicher eine Reise wert und werden in die Schachhistorie eingehen, denn beide Schauplätze sahen eines der ungewöhnlichsten Duelle, das die Geschichte des Spiels auf den 64 Feldern kennt.“ (ebendort, S. 156-157).
Dennoch erinnert das Match mit seinen Umständen, den fehlerbehafteten Partien und den beiden alternden Protagonisten, von denen einer darauf beharrte, um den Titel zu spielen, an Karl Marx’ Bemerkung, dass „sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Das erhoffte Comeback Fischers in die Turnierarena blieb aus, nach dem Wettkampf gegen Spasski spielte Fischer keine öffentliche Partie mehr.
Spasski versüßte sich mit dem Preisgeld immerhin seinen Ruhestand, doch Fischer schadete sich, auf lange Sicht gesehen, enorm. Er hatte gegen das US-Embargo gegen Jugoslawien verstoßen, konnte nicht mehr in die USA einreisen und wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht. Trotzdem tourte Fischer in den folgenden Jahren unbehelligt durch Europa und Asien. Gelegentlich meldete er sich, um im Radio antisemitische Hetzreden zu halten.
Die erste Seite eines 39-seitigen handschriftlichen Notizbuches
von Fischer mit antisemitischen Parolen. Quelle: David & Allessandra De Lucia,
Bobby Fischer Uncensored, Eigenverlag 2009. Das in kleiner Auflage erschienene
Buch enthält einen Großteil von Fischers Nachlass.
Fischers verstörender pathologischer Antisemitismus konsterniert um so mehr, als er selbst jüdischer Abstammung war: seine Mutter war ebenso wie sein vermutlicher biologischer Vater Paul Nemenyi jüdischer Herkunft. Fischer bejubelte nach dem 11. September 2001 sogar die Anschläge auf das World Trade Center in New York, der Stadt, in der er aufgewachsen war. Doch selbst dafür zeigen Fischer-Verehrer noch Verständnis: „Wie tief müssen die seelischen Verletzungen sein, eine solche Ansicht über die Anschläge in einer Stadt zu äußern, in der er noch heute Freunde und Verehrer hat.“ (Wolfgang Daniel, Robert James Fischer: „Ich wollte unbedingt gewinnen!“ Zitate, Notizen, Stationen und Partien aus dem Leben eines Schachprofis, Schneidewind Verlag 2007, S. 111).
Generell ist die Bewunderung, die Daniel für Fischer an den Tag legt, zu groß für einen differenzierten Blick auf seinen Helden: „Hochachtung verdient er dafür, dass er dem Zeitgeist trotzte, dass er sich sein ganzes Leben weder bevormunden, noch politisch, ideologisch und kommerziell hat benutzen oder gar missbrauchen lassen. Robert James Fischer ist in vielerlei Hinsicht Vorbild für die junge Generation.“ (ebendort, S. 118). Eine Aussage, der man angesichts von Fischers Monomanie, seinem Verfolgungswahn, seiner Einsamkeit, seiner Unfähigkeit zu stabilen sozialen Beziehungen und nicht zuletzt seinem pathologischen Antisemitismus keinesfalls guten Gewissens zustimmen kann.
Die ultimative Fischer-Biographie erschien erst drei Jahre nach dessen Tod: Endgame (Crown Publishers 2011), geschrieben von Frank Brady, Gründungsmitglied der amerikanischen Zeitschrift Chess Life, Professor an der St. Johns University und Autor von Biographien über Orson Welles und Aristoteles Onassis.
Brady kannte Bobby seit dessen frühester Jugend und hatte unter dem Titel Profile of a Prodigy bereits 1960 eine Biographie über den jungen Fischer veröffentlicht. Unter dem gleichen Titel und wesentlich erweitert erschien 1973 die zweite Biographie, die die Zeit bis zum Gewinn des WM-Titels bestrich. Die deutsche Übersetzung von Endgame erschien ein Jahr später, 2012, unter dem Titel Endspiel: Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer im RivaVerlag.
Bereits im Vorwort verweist Brady auf die widersprüchliche Natur Fischers: „Als jemand, der Bobby Fischer seit früher Jugend kannte, wurde ich Hunderte Male gefragt, ‚Wie war Bobby Fischer wirklich?’.Dieses Buch ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten. Aber eine Warnung an diejenigen, die diese Seiten lesen: Es wimmelt vor Widersprüchen. Bobby war verschlossen und doch offen; großzügig und doch knauserig; naiv und doch gut informiert; grausam und doch gütig; religiös und doch ketzerisch. Seine Partien waren voller Charme und Schönheit und Bedeutung. Seine abscheulichen Äußerungen waren voller Grausamkeit und Vorurteil und Hass.“ (Brady, Author’s Note)
Obwohl Brady das zwiespältige Wesen Fischers schildert, steht er Fischer insgesamt wohlwollend gegenüber. Detailliert, einfühlsam und gut lesbar schildert er Fischers Lebensweg, angefangen von frühester Jugend bis hin zum Rückzug in die Einsamkeit nach dem Gewinn des WM-Titels 1972 und seinem Tod in Reykjavik. Brady achtet darauf, Fischers Lebensgeschichte neutral zu schildern und sie nicht zu werten. Er beschreibt seine Laufbahn, seine Launen und Ängste, seinen Rückzug vom Schach, aber verurteilt Fischer nicht. Entstanden ist ein faszinierendes und tragisches Porträt eines hochbegabten Menschen, der mit sich selbst nicht klar kam.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte Dagobert Kohlmeyer ein weiteres Buch über Fischer: Bobby Fischer: Genie zwischen Ruhm und Wahn (Beyer Verlag 2013). In einer Reihe von Aufsätzen wird noch einmal der Lebensweg des Helden geschildert. Einmal mehr ist Kohlmeyer zu sehr Fischer-Fan, um zu kritischen Urteilen zu gelangen. Lesenswert ist das Buch dennoch, vor allem wegen der zahlreichen Stimmen, die der Autor von Bekannten und Freunden Fischers wie Peter Leko, Jewgeni Wasjukow, Lothar Schmid oder Susan Polgar eingeholt hat.
Eine Sonderstellung nimmt Garri Kasparow ein, der sich im sechsten Band seiner Reihe Meine großen Vorkämpfer (Edition Olms 2007) mit Samuel Reshevsky, Miguel Najdorf, Bent Larsen und Bobby Fischer beschäftigt. Kasparow verbindet die detaillierte Analyse von mehr als 60 Partien mit einer ausführlichen Biographie Fischers. Neues erfährt man hier allerdings nicht und so packend wie bei Brady geht es bei weitem nicht zu. Ärgerlich ist Kasparows nachlässiger Umgang mit Quellen und Zitaten, allzu oft fehlen die Angaben, von wem bzw. woher die angeführten Aussagen und Meinungen über Fischer stammen. Eigenwillig wirken bisweilen auch die Interpretationen der Bedeutung Fischers. Gleich zu Beginn liest man: „Nicht zufällig wurde über Robert James Fischer […] mehr geschrieben als über jeden anderen Schachspieler: Die von ihm vollbrachte Revolution ist mit der Revolution von Steinitz zu vergleichen! In den vorangegangenen hundert Jahren hatte es im Schach keinen zweiten Durchbruch dieser Art gegeben. […] Es ist dies der seltene Fall, dass ein Nihilist, ein intellektueller Hippie, der die westliche Gesellschaft verachtet, sich auch dem sowjetischen System entgegenstellt. Fischer balancierte auf der Schneide des ideologischen Kampfes – daher wurde sein Match gegen Spasski 1972 zum wichtigsten Schachereignis des 20. Jahrhunderts.“ (Kasparow, S. 226)
Abgesehen davon, dass (mir) nicht klar ist, was er meint, wenn er den lange sehr religiösen Fischer als „Nihilist“ und „intellektuellen Hippie“ bezeichnet, ist die von diesem ausgehende Faszination sicher nicht an eine vielleicht vollbrachte Schachrevolution, sondern an dessen schillernde Persönlichkeit geknüpft. Auch an anderen Stellen erscheint Kasparows Wertung der Person und des Schachspielers widersprüchlich. So wirft er Fischer einerseits Geldgier vor, andererseits beklagt er, dass dieser seinen Ruhm nicht dazu genutzt habe, Schach populärer zu machen und Sponsoren zu gewinnen – was Fischer aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur gar nicht konnte.
Für Fischers größtes Verdienst hält Kasparow, dass er das Schach professionalisiert hat, und über dessen Leistungen als Schachspieler schreibt er: „Viele halten Robert Fischer für den besten Schachspieler des 20. Jahrhunderts. Womöglich ist es auch so. ‚In so einer kurzen Lebensspanne, die er ungeteilt dem Schach widmete, führte Fischer eine völlige Wende in der öffentlichen Wahrnehmung dieser erstaunlichen Kunst herbei’, schreibt Taimanow, und ich stimme ihm zu.“ (Kasparow, S. 498).
Weniger bombastisch und weniger umfangreich, dafür aber sehr entspannt und gut lesbar ist der 47 Seiten lange Essay, den Bent Larsen in seinem 2009 im Verlag SchachDepot erschienenen Buch Alle Figuren greifen an, Band 1, über Fischer veröffentlicht hat.
In lockerem Plauderton zeichnet Larsen hier die Karriere Fischers nach, analysiert eine Reihe von Partien, erzählt Anekdoten über die Begegnungen der beiden und gibt kurze Einschätzungen zur PersonFischers ab.
Das schachliche Erbe
Den besten Zugang zu Fischers Schach bieten immer noch die oben erwähnten 60 Denkwürdigen Partien. Doch natürlich haben sich auch viele andere Autoren mit seinem schachlichem Erbe beschäftigt. So veröffentlichte der Holländer Christiaan M. Bijl 1976 im Vermande Schachverlag Die gesammmelten Partien von Robert J. Fischer mit einem umfangreichem Indexteil und einigen schönen Fotos.
2009 folgte der Hamburger Großmeister Karsten Müller bei Russell Enterprises mit Bobby Fischer. The Career and Complete Games of the American World Chess Champion. Die deutsche Ausgabe Bobby Fischer. Die Karriere und alle Partien des amerikanischen Weltmeisters folgte 2010 bei New in Chess. Müller kommentiert fast jede Partie, die interessantesten besonders ausführlich. Kurze Texte erläutern den Hintergrund der Turniere, in denen die jeweiligen Partien gespielt wurden, eine Reihe von Fotos lockern Text und Analysen auf.
Die Klarheit von Fischers Spiel und seine Popularität haben zu einer Reihe von Büchern geführt, die der Frage nachgehen, was Fischer als Schachspieler auszeichnete, was die typischen Eigenschaften seines Stils waren. Zum Beispiel Elie Agur in Bobby Fischer: His Approach to Chess (Cadogan Books 1992), das 1993 unter dem Titel Bobby Fischer: Seine Schachmethode im Beyer Verlag erschien. Agur analysiert die nach strategischen und taktischen Motiven geordneten Partien mit Begeisterung, überall klingt die Bewunderung des Autors für das Objekt seiner Betrachtungen an. Das führt manchmal zu allzu enthusiastischen Urteilen über Fischers Züge, macht das Buch aber lebhaft und lesenswert.
Auch Ex-Weltmeister Max Euwe, der zur Zeit des Kampfes in Reykjavik FIDE-Präsident war, hat ein interessantes Buch über Fischers Stil geschrieben, in dem er fragt, ob „Fischer der größte Schachspieler aller Zeiten“ war: Fischer und seine Vorgänger (Edition Jung 2007 [Original 1975], S. 7). Euwe versucht, „bestimmte Aspekte von Fischers Stil zu beleuchten und diese zu vergleichen mit ähnlichen Aspekten in den Spielen der 3 zuletzt verstorbenen Weltmeister.“ (ebendort, S. 7; wie man [nicht nur] an diesem Zitat sieht, gedieh die Übersetzung mitunter etwas holprig). Euwe bescheinigt Fischer ausgezeichnete eröffnungstheoretische Kenntnisse, „ein feines positionelles Urteil, unbegrenzte Energie und große Fechtlust“ und urteilt abschließend: Fischer „strebt nach vollständiger Deutlichkeit, nicht mehr und nichr (sic) weniger“. (ebendort, S. 141).
Jerzy Konikowski und Pit Schulenburg erläutern in Fischers Vermächtnis: Ein Schachlehrbuch auf der Grundlage der Partien des legendären Bobby Fischer (Beyer Verlag 2003) anhand von 73 ausgewählten Partien, wie Fischer den „Angriff auf den König“ geführt hat, was sein „Positionsspiel“ auszeichnet sowie seine Kunst in „Spanischen Duellen“ und im „Endspiel“. Die Autoren sind bei ihrer Betrachtung nüchterner und weniger enthusiastisch als Agur, ihnen gelingt eine gute Darstellung einiger strategischer Motive.
Eine sehr gelungene Einzeldarstellung von Fischers Stärke im Endspiel und seiner Vorliebe für den weißfeldrigen Läufer liefert der renommierte rumänische Autor Mihail Marin in seinem 2008 bei Quality Chess erschienenem Buch Von den Legenden lernen: Schachkönige im Exkurs (die englische Ausgabe – siehe Cover– war 2005 ChessCafe.com Book of the Year).
Eine Mischung aus Begeisterung und Kritik bietet das Buch Wie schlägt man Bobby Fischer des amerikanischen Großmeisters Edmar Mednis, der selbst sieben Mal gegen Fischer gespielt hat (+1, =1, 5). Das Original erschien 1974 in den USA, die deutsche Übersetzung 1993 im Sportverlag.
In der Einleitung weist Robert Byrne darauf hin, wie wenig Niederlagen Fischer im Laufe seiner Karriere erlitten hat (61 in 576 Partien) und meint, die Verlustpartien eines Spielers, der so schwer zu schlagen ist, müssten lehrreich und interessant sein. So reizvoll dieser Ansatz auch ist, so kann man durchaus geteilter Meinung sein, ob es sinnvoller ist, sich mit den Stärken oder den Schwächen eines guten Spielers zu beschäftigen.
Was die Betrachtung von Schwächen betrifft, ist darin niemand so gründlich und virtuos wie Dr. Robert Hübner. Und da er meinte, Fischers „schachliche Produkte“ seien „allgemach dem Vergessen anheimgefallen“ entschloss er sich, „der berühmten Partieauswahl von Fischer My 60 Memorable Games[…] Aufmerksamkeit zuzuwenden“. Weiter führt er aus: „Den meisten Kritikern gelten die Anmerkungen Fischers als völlig fehlerfrei, und jede seiner Ausführungen wird als verbürgte Wahrheit hingenommen. Mich plagte der Wunsch, festzustellen, ob dieser Ruf wirklich gerechtfertigt sei. Leider gibt es nur eine Möglichkeit, dies nachzuprüfen: man muß sich selbst an die Arbeit machen und sämtliche Angaben Fischers nachvollziehen. Ich habe sein Kommentierungswerk durchgesehen, um mir zweifelhafte Stellen aufzufinden. Eine solche Durchsicht kann ob der Fülle des Materials nur flüchtig ausfallen.“ (Dr. Robert Hübner, Materialien zu Fischers Partien, Schachzentrale Rattmann 2004, Einführung).
Hübner beeindruckt wie gewohnt durch Sorgfalt, gedankliche Klarheit, stilistisch brillante Formulierungen und unglaubliche Gründlichkeit. In ausführlicher analytischer Arbeit und gestützt durch eine Fülle von Varianten listet Hübner jede Anmerkung Fischers auf, mit der er nicht einverstanden ist oder die er korrigieren oder ergänzen möchte. Am Ende folgt eine „Zusammenfassende Charakterisierung von Fischers Spielauffassung“: „Natürlich ist es unvermeidlich, daß die Bewertungen von meinen eigenen Vorlieben beeinflußt sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die Urteile über Fischers Behandlung bestimmter Situationen in der Partie oder Analyse nicht absolut sind, sondern sich aufeinander beziehen. Wo etwas als Mangel dargestellt wird, ist dies im Vergleich mit den anderen schachlichen Fähigkeiten Fischers zu sehen. Natürlich ist die allgemeine Qualität seines Schaffens in jeder Hinsicht sehr hoch. […] Ganz herausragend ist die hohe Präzision und die ungewöhnliche Fehlerfreiheit, welche die Ausführungen Fischers im taktischen Bereich kennzeichnen. […] Fischers Spiel wird von stetem Streben nach Aktivität bestimmt. Er besitzt ein besonders feines Gespür für die Gefährlichkeit eines direkten Königsangriffs. […] Dennoch wird meines Erachtens die Kraft des Angriffs und die Bedeutung der Initiative von Fischer nicht selten überschätzt; dementsprechend unterschätzt er die Verteidigungsmöglichkeiten. […] Bemerkenswert ist auch, daß in der Eröffnung dem Schwarzen häufig großer Vorteil zugeschrieben wird, wenn Weiß ein wenig zurückhaltend gespielt hat, obwohl das Gleichgewicht noch nicht ernsthaft gestört ist. Es scheint mir, daß Fischer im allgemeinen die Remisbreite beim Schachspielen nicht hoch genug veranschlagt.
Hervorstechend ist auch Fischers Wunsch, sowohl in seinen Stellungen wie in seinen Anmerkungen möglichst große Klarheit herbeizuführen. Dies ist natürlich im allgemeinen ein positiver Zug, der aber auch zu Nachteilen führen kann, wenn er übertrieben wird. So scheint mir, daß sich Fischer in feinere Detailfragen bei ruhigen Stellungen nicht mit dergleichen Liebe und Aufmerksamkeit vertieft wie in taktische Wendungen aller Art. […] Klarheit gibt Sicherheit. Vielleicht bevorzugt Fischer deutliche Strukturen, weil es ihm bewußt war, daß sein Gefühl für die strategischen Erfordernisse einer Stellung weniger gut ausgebildet war als sein taktisches Gespür. Öfter glaube ich unbefriedigende Gestaltung des Bauerngerüstes beobachten zu können. […] Bisweilen zeigt sich auch ein Mangel bei der Ausschöpfung der dynamischen Möglichkeiten einer Stellung, der meist mit der Überschätzung materieller Werte gepaart geht. Nach alledem ist es nicht verwunderlich, daß Fischer sich bei freiem Figurenspiel besonders wohl fühlt. Hier kann sich seine größte Stärke –Präzision bei der Berechnung konkreter Varianten –am besten entfalten.“ (ebendort, S. 169-171).
Doch so beeindruckend gründlich Hübners Analysen und so präzise seine Schlussfolgerungen auch ausfallen, beschleicht mich dennoch das Gefühl, dass zwar jede Kleinigkeit stimmen mag, das Gesamtbild aber verzerrt ist. Seite um Seite sieht man sich mit Kritik an Fischers Spiel und Analysen konfrontiert, meistens nüchtern, gelegentlich auch mit lakonischer Schärfe vorgetragen. Und bei aller Bewunderung für Hübners gedankliche Klarheit und seine Bereitschaft zur gründlichen Analyse, die immer wieder fundierte und interessante Ergebnisse hervorbringt – Begeisterung für Fischers Partien oder auch für das Schach generell wird durch Hübners konsequente und fast ausschließliche Betonung von Fehlern in Fischers Analysen nicht geweckt. Aber das war wohl auch nicht die Intention des Autors.
Epilog
Das letzte Wort über Bobby Fischer ist mit diesen Büchern sicher noch nicht geschrieben. Wer den Fragen, warum Fischer so gut geworden ist, wann und wieso seine geistige Verwirrung einsetzte und was von Fischer als Person und Schachspieler bleibt, weiter nachgehen will, kann das im Internet, in Dokumentarfilmen und der vielfältigen nichtdeutschsprachigen Literatur über ihn tun. Die hier vorgestellten Bücher deuten an, dass Fischer so gut wurde, weil er – wie auch immer er in den Besitz dessen gelangte – über einen enormen Siegeswillen und Kampfgeist verfügte und sich von Kindheit an fast ausschließlich mit Schach beschäftigte. Seine psychischen Mängel scheinen – so weit man das aufgrund von Schilderungen in Büchern überhaupt sagen kann – zum Teil durch lange Zeiten der Einsamkeit als Kind herzurühren. Doch was immer man über die Widersprüche der Person und die menschlichen Mängel auch sagen mag, so bleibt sein eindrucksvolles schachliches Erbe. Oder, wie es Bent Larsen sagt: „Sie können Robert James Fischer nicht verstehen. Aber warum sollte man das auch wollen? Warum ergötzt man sich nicht einfach an seinen Partien?“ (Larsen, S. 207).
Der Firma Schach Niggemann danke ich für die zur Verfügung gestellten Rezensionexemplare.
Erstveröffentlichung: Schach (4/2014), S. 38-47.
Siehe auch:
Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann: Ein Interview mit John Eidinow
Scheinbar einfach: Bobby Fischer at His Best
Mehr als nur eine Schachpartie, Botvinnik gegen Fischer, Varna 1962
- P. H. Clarke über Tigran Petrosian
- Koan im Krimi: Robert van Guliks „Der geschenkte Tag“
Hi, es hat nie einen größeren Schachspieler als Bobby Fischer gegeben.
Die Kandidatenmatches war dass Allergröße.