Lovesoftfun: „Finnegans Wake“ von James Joyce

Foto: Alex Ehrenzweig, Wikipedia

Foto: Alex Ehrenzweig, Wikipedia

Manche Bücher sind so berühmt, dass man sich damit brüsten kann, sie nicht gelesen zu haben. So veröffentlichte die faz.net am 15. Juni 2004 eine „Schriftsteller-Umfrage“ mit dem Titel „Haben Sie den Ulysses auch nicht gelesen?“. Dabei gilt Ulysses als eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts und der Literatur überhaupt. Geschrieben hat es der irische Schriftsteller James Joyce (Foto). Acht Jahre hatte er an dem vielschichtigen Buch gearbeitet, doch am 2. Februar 1922, seinem vierzigsten Geburtstag, erklärte er das Werk für beendet. Nach einer längeren Pause, aber noch im gleichen Jahr, begann Joyce dann die Arbeit an Finnegans Wake, seinem letzten Buch, das 1939, zwei Jahre vor seinem Tod, erschien. Auch dieses Buch ist berühmt, wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und gilt vielen als wegweisend für die moderne Literatur, aber von Anfang bis Ende gelesen haben es wohl nur wenige. Das hat Gründe.

Die zeigen sich gleich im ersten Satz: „riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs“.

Und in diesem Stil geht es weiter, über 600 Seiten lang, endlose Satzkaskaden voller Wörter, die Englisch klingen, aber es nicht immer sind, die Joyce neu geschaffen hat und die oft aus anderen Wörtern zusammengesetzt sind, wobei herkömmliche Regeln von Grammatik und Satzbau sowieso nicht gelten. Ja, eigentlich weiß man nie so recht, wer spricht, wo im Buch man sich befindet und was passiert. So steht im Wikipedia-Eintrag zu Finnegans Wake der bemerkenswerte Satz: „Es ist unter Literaturwissenschaftlern strittig, ob Finnegans Wake eine Geschichte erzählt oder nicht.“ Sollte es den Experten doch noch gelingen, sich in dieser Frage zu einigen, so kann man doch schon jetzt guten Gewissens und ohne Finnegans Wake gelesen zu haben, behaupten, dass der eventuell irgendwann einmal entdeckte Handlungsfaden bestenfalls sehr, sehr dünn sein wird.

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Allerdings geht es in Finnegans Wake nicht um Handlung, sondern um Bewusstseinsströme und Assoziationen, die den Wörtern und Sätzen in einem unaufhörlichen Kreislauf immer neue Bedeutungen verleihen. Und diese Absicht steckt schon im allerersten Wort des Buches „riverrun“: der Strom des Bewusstseins fließt ohne Ende und Anfang, von den Zeiten Adams und Evas, in einem sich wiederholenden Kreislauf, einer „recirculation“, bis ans Ende der Zeit.

Der letzte Satz des Buches lautet entsprechend „a way a lone a last a loved a long the“ – dann hört er plötzlich auf. Zumindest formell. Denn wenn man nicht darauf besteht, dass ein Buch mit der letzten Seite zu Ende ist und sich überlegt, wie dieser unvollständige Schlusssatz weitergehen könnte, verfällt man schnell auf den Gedanken, dass „riverrun, past Eve and Adam’s“ gar nicht so schlecht klingt.

Stichwort Klang: Viele Passagen in Finnegans Wake klingen ausgesprochen lyrisch und liest man sie laut oder bekommt sie vorgelesen, wirkt das auf den ersten Blick befremdlich bizarre Werk plötzlich sehr harmonisch und die Bedeutung der einzelnen Sätze und Wörter erscheint weniger wichtig. Ein guter Einstieg in Finnegans Wake ist dann auch eine Lesung. Und wer könnte sein Werk besser vortragen als der Meister selbst: James Joyce?

Zur besseren Orientierung: Die gelesene Szene stellt eine Unterhaltung von zwei Frauen dar, die bei einsetzender Dämmerung Wäsche an der Liffey waschen, den Fluss, der durch Dublin fließt.

Aber was soll das alles, könnte man trotzdem fragen. Bei allem lyrischen Wohlklang und bei aller sprachlichen Virtuosität – warum ein Buch lesen, das keinen klaren Sinn ergibt, das am Ende wieder von vorne beginnt und vielleicht durch ein paar gelungene Sprachspiele unerwartete Assoziationen und Heiterkeit auslöst, doch bei dem man leicht in einer Flut von Assoziationen ertrinkt, die durch keinerlei Erzählstrang geordnet oder begrenzt werden?

Nun, vielleicht, weil viele Passagen und Wortschöpfungen wie zum Beispiel die „hithering, thithering waters of“ hartnäckiger im Gedächtnis bleiben als so mancher Plot eines spannenden Krimis oder gelungenen Romans. Oder weil Sätze wie „don’t you know … that every telling has a taling“ in knapper Form und einprägsamer als seitenlange gelehrte Abhandlungen viel über das Wesen des Erzählens (telling) verraten, bei dem immer Erfindung und Fabulieren (taling) dabei ist. Oder weil Finnegans Wake die Frage stellt, was Literatur eigentlich ist und wie man mit Sprache Welt und Gedanken abbilden kann. Oder welche Rolle das Unbewusste beim Lesen von Literatur und der Konstruktion von Bedeutung spielt.

Oder weil der spielerische Umgang mit Sprache in Finnegans Wake einfach Spaß macht, jede Menge Spaß, für manchen sogar „Unendlichen Spaß“ oder, mit einem Joyce-Wort, lovesoftfun. Dieses schöne Wort mit vielfältiger Bedeutung habe ich allerdings nicht selbst in Finnegans Wake entdeckt, sondern in Fritz Senns Buch Nichts gegen Joyce gefunden, einem schönen, gut lesbaren Band mit Essays, die einen angenehm unprätentiösen Einstieg in die Welt von Joyce bieten.

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Ich selbst verdanke viel von meiner Begeisterung für James Joyce Prof. Dr. Klaus Reichert, bei dem ich in Frankfurt am Main Anglistik studiert habe.

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