Ein guter Start ist nicht alles: Die Auftaktniederlage
Heute, am 7. November 2013, beginnt der Wettkampf zwischen Vishy Anand und Magnus Carlsen offiziell, am 9. November spielen Carlsen und Anand die erste Partie des Matches. Man könnte meinen, zu Beginn des Wettkampfs würden es beide Seiten gerne vorsichtig angehen lassen, aber wie die Geschichte der Weltmeisterschaften zeigt, enden Auftaktpartien erstaunlich oft mit Sieg und Niederlage. Einen kleinen Beitrag zu diesem Thema habe ich im KARL-Heft 2/2010 verfasst. Schwerpunkt des Heftes war der WM-Kampf zwischen Anand und Topalov. Ein WM-Kampf, der daran erinnert, wie gut Anand Niederlagen verkraftet: Zum Auftakt verlor er schrecklich, am Ende gewann er den Wettkampf doch noch 6,5:5,5.
Ein guter Start ist nicht alles: Die Auftaktniederlage
Der Weltmeister startete schlecht in den Wettkampf. In der ersten Partie hatte er Schwarz und geriet nach einem Bauernopfer des Herausforderers in einer bekannten Eröffnung schnell in die Defensive. Plötzlich musste er sich präzise verteidigen, in Anbetracht eines exponierten Königs und starker Türme des Weißen keine leichte Aufgabe. Wie schwer die Stellung selbst für einen Defensivkünstler war, bewies die Partie. Nach einer Ungenauigkeit des Schwarzen drang der weiße Springer in die gegnerische Stellung ein und opferte sich gegen den schwarzen f-Bauern, wonach der schwarze König den angreifenden weißen Figuren schutzlos ausgeliefert war. Weiß krönte die Partie mit ein paar hübschen taktischen Turmmanövern und fügte dem Weltmeister gleich zu Beginn des Wettkampfs eine bittere Niederlage zu. Hier die Partie, gespielt am 1. Januar 1892 in Havanna, zum Auftakt des Weltmeisterschaftskampfs zwischen Michail Tschigorin und Wilhelm Steinitz.
Wilhelm Steinitz, der erste offizielle Schachweltmeister (Foto: Wikipedia)
108 Jahre später, am 24. April 2010, in der ersten Partie des Wettkampfs zwischen Vishy Anand und Weselin Topalow wiederholte sich die Geschichte:
Wie man sieht befindet sich Anand mit seiner Auftaktniederlage beim Wettkampf gegen Topalow in guter, wenn nicht sogar in bester, Schachgesellschaft. Ein Blick in die Statistik bestätigt das: Von Steinitz gegen Zukertort 1886 bis zu Anand gegen Topalow 2010 wurden 41 Weltmeisterschaftskämpfe gespielt und in 26 davon fiel in der ersten Partie eine Entscheidung. (Unter Weltmeistern verstehe ich die Spieler, die den Titel durch einen Wettkampfsieg – kampflos oder nicht – gegen ihren Vorgänger errungen haben. Einzige Ausnahme ist Michail Botwinnik, der 1948 das Weltmeisterturnier gewann, das notwendig geworden war, weil Alexander Aljechin 1946 als amtierender Weltmeister starb.) In 16 dieser 41 Partien war der Sieger der ersten Partie auch der spätere Sieger des Wettkampfes, in acht Partien konnte der Verlierer der Auftaktpartie das Ruder herumreißen und den Wettkampf für sich entscheiden, zwei Wettkämpfe endeten Unentschieden.
Und nur drei der 15 Weltmeister haben in ihren Weltmeisterschaftskämpfen nie in der ersten Runde verloren: Emanuel Lasker, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik. Die Ergebnisse von Lasker und Kasparow sind hier besonders beeindruckend, denn diese beiden haben mehr Weltmeisterschaftskämpfe gespielt als ihre Kollegen, nämlich jeweils acht. (Wenn man bei Lasker die Wettkämpfe gegen Schlechter 1910 und gegen Janowski 1909 als Weltmeisterschaftskämpfe zählt.)
Emanuel Lasker, der 2. Weltmeister und Rekordhalter auf dem Weltmeisterthron. 1894 wurde er mit einem Sieg gegen Steinitz Weltmeister, 1921 verlor er seinen Titel durch eine Niederlage gegen den Kubaner José Raul Capablanca. (Foto: Wikipedia)
Auch Anatoli Karpow hat sich in sieben WM-Kämpfen wacker geschlagen und hätte sich ohne seine Auftaktniederlage gegen Kasparow 1985 in diese illustre Dreiergruppe einreihen dürfen. Der erfolgreichste Auftaktscorer der Dreiergruppe war übrigens Lasker: In seinen acht WM-Kämpfen gewann er fünf Mal gleich zu Beginn. Kasparow legte zwei Mal – gegen Karpow 1985 und gegen Short 1993 – in der ersten Runde vor, genau wie Kramnik, der 2004 gegen Leko und 2006 gegen Topalow gleich die erste Partie für sich entschied.
Kompromisslos wie eh und je ist hier Michail Botwinnik. Er bringt es auf sieben WM-Kämpfe und sechs Entscheidungen in der ersten Partie.
Nur 1951, gegen David Bronstein, bei seinem ersten WM-Kampf überhaupt, ließ es Botwinnik mit einer Punkteteilung langsamer angehen. In allen sechs folgenden WM-Kämpfen Botwinniks kam es gleich in der ersten Partie zu einer Entscheidung und der Sieger dieser ersten Partie gewann später fast immer auch den Wettkampf. Einzige Ausnahme: Der WM-Kampf gegen Petrosjan 1963. Bei seiner ersten Partie in einem WM-Kampf bekam Petrosjan seine Nerven nicht in den Griff, spielte unentschlossen und kraftlos und verhalf Botwinnik ohne großen Widerstand zu einem Sieg.
Danach gelang Botwinnik allerdings nicht mehr viel und mit einem klaren 12,5:9,5 Sieg holte sich Petrosjan den Titel.
Tigran Petrosian, Weltmeister von 1963 bis 1969
Auch 1954, bei seinem Wettkampf gegen Wassili Smyslow, schwächelte Botwinnik nach verheißungsvollem Auftakt. Botwinnik gewann die ersten beiden Partien, doch am Ende hieß es 12:12 Unentschieden. Geholfen hat Smyslow dieser moralische Sieg allerdings nicht viel, denn bei Gleichstand, so die Regel, behielt der amtierende Weltmeister, also Botwinnik, den Titel.
Tatsächlich war es nur einem Spieler vergönnt, einen WM-Kampf nach einem 0:2 Rückstand doch noch zu gewinnen. Dieses Kunststück gelang Bobby Fischer gegen Spasski in Reykjavik 1972. Fischer ist übrigens auch der einzige Weltmeister, der nur einen einzigen WM-Kampf absolvierte. Alle anderen haben mindestens zwei Wettkämpfe gespielt: einen, mit dem sie Weltmeister wurden, und einen, mit dem sie ihren Titel verteidigt haben.
Typisch für die Nervosität, die zu Beginn der WM-Kämpfe herrscht und die relativ hohe Zahl an Auftaktniederlagen erklärt, ist die Art, wie Fischer die erste Partie verlor. In einem völlig ausgeglichenen Läuferendspiel nahm Fischer im 29. Zug ohne Not einen vergifteten Bauern und servierte Spassky die Partie auf einem Silbertablett.
Bobby Fischer nimmt den vergifteten Bauern h2. Screenshot aus Liz Garbus’ Dokumentarfilm „Bobby Fischer Against the World“
Nach dieser Niederlage trat Fischer aus Protest gegen die Spielbedingungen zur zweiten Partie gar nicht erst an und sorgte damit für die erste kampflose Partie in der Geschichte der Weltmeisterschaftskämpfe. Was die Frage aufwirft, wie man mit einer Auftaktniederlage in einem so wichtigen Kampf umgeht.
Eine kampflose Niederlage irritiert vielleicht den Gegner, wirkt aber dennoch ein wenig radikal. Besser scheint es, sich an einen anderen Hinweis Fischers zu halten, der in seinem Buch Meine 60 denkwürdigen Partien anlässlich seines Sieges gegen Petrosjan in Bled 1961 von Nachahmung als „aufrichtigster Form der Schmeichelei“ spricht.
Auch diese Strategie kann man allerdings übertreiben, wie Alexander Aljechin in seinen Wettkämpfen gegen Max Euwe gezeigt hat. 1935, bei ihrem ersten Wettkampf, war Max Euwe klarer Außenseiter und die erste Partie gab allen, die auf einen Favoritensturz gehofft hatten, wenig Grund zum Optimismus. Der Holländer hatte Schwarz und ließ sich aus der Eröffnung heraus von Aljechin überspielen.
Ein hübscher und leichter Sieg für Aljechin. Vielleicht zu leicht – man könnte verstehen, wenn Aljechin nach dieser Partie geglaubt hatte, sein Sieg im Wettkampf sei nur noch Formsache. Doch Euwe fing sich und nach 30 Partien war die Sensation perfekt. Euwe lag mit 15,5:14,5 vorne und war neuer Weltmeister.
Alexander Aljechin. Weltmeister von 1927 bis 1935 und von 1935 bis zu seinem Tod 1946. Der einzige Weltmeister, der als amtierender Weltmeister starb.
Zwei Jahre später kam es zum Revanchewettkampf. Und da dachte sich Aljechin, es kann so schlecht nicht sein, die Strategie des Holländers zu kopieren. Was er dann auch tat: Er spielte die gleiche Eröffnungsvariante, mit der Euwe zwei Jahre zuvor Schiffbruch erlitten hatte, kam wie der Holländer zwei Jahre zuvor gleich aus der Eröffnung heraus in Nachteil und verlor die Partie genauso sang- und klanglos. Um den Wettkampf am Ende mit 15,5:9,5 zu gewinnen.
Erfolgversprechender wirkt da eine andere Form der Nachahmung, ebenfalls von Aljechin praktiziert: Nach der Auftaktniederlage gewinnt man einfach die zweite Partie. So hatte es Euwe 1935 gemacht, so machte es Aljechin 1937 – und Anand 2010.
- Anand gegen Carlsen: Das Duell, Teil 9
- Anand gegen Carlsen: Das Duell, Teil 10