“Magst du eigentlich Harry Potter, Schatz?”

the_cuckoos_callingIch habe es mir tatsächlich gekauft: J. K. Rowlings neues Buch The Cuckoo’s Calling, ein Krimi, den die erfolgreichste Autorin der Welt unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlicht hat. Der Grund, warum ich dieses Buch gekauft habe, ist einfach: es stammt von J. K. Rowling. Denn immerhin hat mich die 1965 geborene Britin in sieben Bänden Harry Potter bestens unterhalten und so weckt ihr neuer Roman Erwartungen und Hoffnungen, die das Debüt eines unbekannten Autors beim besten Willen nicht wecken kann.

Aber macht es denn einen Unterschied, ob Robert Galbraith, J. K. Rowling oder ein anderer Name auf dem Cover steht? Muss man Autor oder Autorin eines Buches kennen, um sagen zu können, ob ein Buch „gut“ oder „schlecht“ ist? Gibt es keine objektiven Kriterien für „gute“ oder „schlechte“ Literatur?

Nun, sollte es sie geben, dann konnten sich die Experten bislang nicht einigen, wie genau sie aussehen. Der Streit darüber ist mindestens so alt wie Aristoteles’ Poetik. Auch der Germanist, Anglist und emeritierte Professor Hans-Dieter Gelfert ist dieser Frage nachgegangen und präsentiert in seinem Buch Was ist gute Literatur? eine auf den ersten Blick einschüchternd wirkende Liste von Kriterien für „gute Literatur“. Als da wären: Vollkommenheit, Stimmigkeit, Expressivität, Welthaltigkeit, Allgemeingültigkeit, Interessantheit, Originalität, Komplexität, Ambiguität, Authentizität, Widerständigkeit und Grenzüberschreitung.

Schön und gut und sicherlich die eine oder andere Diskussion wert, aber wirklich interessant finde ich das letzte, noch nicht erwähnte, Kriterium: „Das gewisse Etwas“. Denn dieses Kriterium erinnert daran, dass Literatur immer etwas Unerklärliches hat, etwas, das sich klaren und eindeutigen Interpretationen entzieht. Denn könnte man die in der Schule so gern gestellte Frage: „Was wollte uns der Dichter damit sagen?“ eindeutig und umfassend beantworten, dann wären die davon betroffenen Romane, Gedichte oder Theaterstücke ein für alle Mal interpretiert, umfassend erklärt und kaum noch lesenswert.

„Das gewisse Etwas“ verhindert diesen mechanischen Umgang mit Literatur und sorgt dafür, dass bedeutende literarische Werke im Laufe der Jahrhunderte von Generation zu Generation immer wieder neu gelesen und interpretiert werden können. Denn natürlich sind Bücher und ihre Interpretationen dem Zeitgeist unterworfen. Und wäre der erste Band von Harry Potter nicht 1997, sondern 1977 oder 2017 erschienen, dann hätte J. K. Rowling jetzt vielleicht keine Millionen auf dem Konto.

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J. K. Rowling beim White House Ostereierschieben 2010 (Foto: Daniel Ogren, Wikipedia-Eintrag J. K. Rowling)

„Das gewisse Etwas“ sorgt auch für Subjektivität: Was dem einen Leser gefällt, findet ein anderer unerträglich, was die eine Leserin als großartig erlebt, empfindet die andere als Kitsch. Natürlich kann man sich über rein subjektive Interpretationen à la „Also, ich mag Rosamunde Pilcher“ oder „Harry Potter hat mir nie gefallen“ ohne weitere Ausführungen ärgern, aber wenn man das Mystische, Unerklärliche, Geheimnisvolle und nicht Greifbare der Literatur schätzt, dann muss man akzeptieren, dass das eigene Urteil vielleicht besser begründet ist, aber letztlich subjektiv bleibt.

Die Reaktionen auf die Romane um Harry Potter liefern ein gutes Beispiel, wie schwer es ist, Literatur als „gut“ oder „schlecht“ zu beurteilen und zu erklären, warum ein Buch erfolgreich ist. In einem informativen und lesenswerten Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Irgendwas hat J.K. Rowling richtig gemacht“ hat Britta Bode die Bandbreite der kritischen und euphorischen Reaktionen auf Harry Potter zusammengefasst und schreibt abschließend:

„Für den südafrikanischen Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee ist ein Klassiker ein Buch, das immer wieder scharfe Kritik hervorruft, diese aber unbeschadet überlebt. Rowlings “Harry Potter” hat das sehr souverän belegt.“ (Britta Bode, „Irgendwas hat J. K. Rowling richtig gemacht“, Die Welt, 25.10.2007)

Die Harry Potter-Romane mögen die scharfe Kritik unbeschadet überstanden haben, aber J. K. Rowling sehnte sich offenbar nach der Zeit zurück, in der sie als Autorin noch unbekannt war. So erklärt sie auf der Webseite des fiktiven Robert Galbraith, warum sie einen Krimi und warum sie unter Pseudonym geschrieben hat:

„Ich habe Krimis immer gerne gelesen. Im Grunde sind die meisten Harry Potter-Geschichten „Whodunits“ … doch ich wollte schon lange endlich einmal einen richtigen Krimi schreiben. Was das Pseudonym betrifft, so sehnte ich mich nach dem Beginn einer Schriftstellerkarriere in diesem neuen Genre zurück, um ohne Hype oder Erwartungen zu schreiben und ganz ungeschminktes Feedback zu erhalten. Diese Erfahrung war wunderbar und ich hätte mir nur gewünscht, all das hätte etwas länger gedauert.“

Aber das Glück der Anonymität war schnell vorbei. The Cuckoo’s Calling erschien im April 2013 im Verlag Sphere und schon am 14. Juli verriet die Sunday Times, wer sich hinter dem Pseudonym Robert Galbraith verbirgt. Ein Rechtsanwalt der Kanzlei Russells Solicitors, die für Rowling arbeitete, hatte das Geheimnis ausgeplaudert und einer Freundin seiner Frau verraten. Wenig später wusste es die Sunday Times. (Quelle: Artikel über The Cuckoo’s Calling in der englischen Wikipedia, Stichwort „Authorship“).

Immerhin konnte sich Rowling bis dahin über „ungeschminktes“ Feedback freuen. Die meisten Kritiken des Buches waren positiv und lobten Galbraith’ Debüt. Hätte es diesen Mann wirklich gegeben, wäre er wahrscheinlich froh über Resonanz und Verkaufszahlen gewesen, denn bis zum 14. Juli waren 8.500 Exemplare des Buches als Hardcover, eBook, Hörbuch oder Bibliotheksexemplare verkauft worden und zwei Fernsehproduktionsfirmen wollten sich die Filmrechte sichern. (Quelle: Liz Bury, JK tells story of alter ego Robert Galbraith, Guardian, 24. Juli 2013)

Wie auch immer: Ich freue mich darauf, Rowlings neuestes Werk zu lesen. Nächste Woche verrate ich dann, ob das Buch gut ist. Ganz objektiv.

The Cuckoos Calling
Cover von The Cuckoo’s Calling

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