Bertolt Brechts Gedicht „Radwechsel“

Bertolt Brecht (Foto: Wikipedia)

Bertolt Brecht (Foto: Wikipedia)

Ein kurzer Streifzug durch das Internet

Manche Gedichte begleiten einen das ganze Leben. Ob man sie mag oder nicht, ob man es will oder nicht, immer wieder drängen sich in passenden und unpassenden Momenten die gleichen Gedichtzeilen ins Bewusstsein. Eines dieser Gedichte, das mich verfolgt, ist Bertolt Brechts „Radwechsel“. Vermutlich habe ich es irgendwann in der Schule das erste Mal gelesen, doch immer wieder kamen mir im Laufe der Jahre Bruchstücke des Gedichts in den Sinn, meist in Wartezimmern von Ärzten und Behörden. „Ich bin nicht gerne, wo ich herkomme, ich bin nicht gerne, wo ich hinfahre, warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?“ Irgendwann beschloss ich der Sache bzw. dem Gedicht nachzugehen und machte mich im Internet auf die Suche.

Bertolt Brecht
Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?

Ich hatte dieses Gedicht immer als Ausdruck einer inneren Unrast, einer prinzipiellen Ungeduld verstanden, als, wenn man so will, poetischen Ausdruck der Schwierigkeit, dem buddhistischen Ideal des heiteren und gelassenen Lebens im Moment gerecht zu werden.

buddha-statue

Zu naiv? Vielleicht. Brecht hat das Gedicht 1953 geschrieben, dem Jahr des Volksaufstands in der DDR und Prof. Dr. Jan Knopf, Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) am Karlsruher Institut für Technologie KIT, hat zur Entstehung und Interpretation des Gedichts Folgendes zu sagen:

„Der Radwechsel entstand als eine der Buckower Elegien im Sommer 1953 nach den Ereignissen des 17. Juni und als Reaktion auf ihn, nämlich in Erwartung des ‚Neuen Kurses‘, den die Regierung Ulbricht versprochen hatte, nachdem sie sich schon geweigert hatte, die Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten, damit der versprochene ‚Sozialismus‘ endlich nicht als der ‚befohlene‘, sondern als der ‚von unten‘, mit der „Weisheit des Volkes“, wie Brecht formulierte, aufgebaut werden könnte. Wie wir jetzt wissen, war der ‚Neue Kurs‘ eine leere Versprechung, und der Sozialismus, der eben nicht ‚aufgebaut‘ wurde, musste am Ende „real existierend“ genannt werden, weil er nicht real existierte, sondern nur eine Missgeburt darstellte, für die heute niemand mehr die Verantwortung übernehmen will. Aber das nur nebenbei.“
Dreigroschenheft, 2/2010

Nun ja. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Im Gedicht jedenfalls ist von der „Weisheit des Volkes“ nur mit viel gutem Willen, Einfallsreichtum und interpretatorischer Phantasie etwas zu erkennen und auch Worte wie „Neuer Kurs“ oder „Sozialismus“ sucht man dort vergeblich.

Stichwort Überinterpretation. Auf der Webseite der satirisch-literarischen Fitzoblongshow, die Michael Quasthoff und Dietrich zur Nedden in Hannover geleitet haben, stößt man unter dem Titel Brechts Daimler auf eine von Dietrich zur Nedden mit feiner Ironie geschriebene Warnung vor der Überinterpretation von Gedichten, die zugleich Brechts so gar nicht sozialistisches Verhältnis zu Autos und Geld deutlich macht. Über den „Radwechsel“ schreibt zur Nedden:

„In schier geniöser Schlichtheit, haben wir vielleicht von der Deutschlehrerin vorgesagt bekommen, wird hier die Unbehaustheit des Menschen in der Moderne in eine Metapher gemeißelt, damit sich treffliche Aufsätze darüber schreiben lassen, wo man auch ganz viel von sich selbst, der eigenen Erfahrungswelt, dem eigenen Zerrissensein einbringen kann.

Kaum bekannt sind aber die tieferliegenden Motive, die Brecht veranlaßt, ja getrieben haben müssen, diese Zeilen 1953 zu schreiben. John Fuegis Buch “Brecht & Co.” wirft mit einer Passage Licht ins Dunkel der Dichterwerkstatt, ohne daß Fuegi selbst den auf der Hand liegenden Zusammenhang hergestellt hätte. Länger als zwei Jahrzehnte muß Brechts Unbewußtes beziehungsweise Unterbewußtsein mit einer Begebenheit beschäftigt gewesen sein, die den Ledermann mit der Zigarre in einen Disput gezogen hatte, aus dem er, vertraut man Fuegis Darstellung, wie immer als Sieger, wenn auch nicht als
moralischer, hervorgehen sollte.“

Bertolt Brecht (Foto: Wikipedia)

Bertolt Brecht (Foto: Wikipedia)

Im Folgenden erfährt man, wie sich Brecht 1926 bei einem Herrn Otto Müllereisert, einem Bekannten Brechts aus Jugendtagen, Geld lieh, um sich einen großen Wagen zu kaufen, das Geld aber nicht zurück zahlte und sich mit seinem Bekannten in der Folge wegen angeblicher technischer Mängel des Autos zerstritt und das Geld schuldig blieb.
Nach dieser biographischen Anekdote kommt zur Nedden mit einer Parodie psychoanalytisch inspirierter Interpretationen auf den „Radwechsel“ zurück:

„Der Großstadtlyriker schickte seinem Kumpel aus Jugendtagen ein Telegramm: ‚Wann kommt Auto – Brecht’. Eine klare, eine deutliche Botschaft, und die aufmerksame Leserin hat längst die Verbindungen hergestellt zum “Fahrer” des Gedichts, der nichts anderes sein kann als quasi eine, um es im Freudschen Terminus auszudrücken, Deckerinnerung an den Konflikt mit Müllereisert keine drei Jahrzehnte vorher und andererseits zum Schlußwort des Gedichts, das hier in der Biographie des Autors mittelbar bereits an zentraler Stelle auftaucht und somit quasi zum Leitmotiv wird.“

Doch ob man Brechts „Radwechsel“ parodiert oder ob man es politisch, psychologisch, allgemein menschlich oder buddhistisch versteht – das Gedicht setzt Energien frei. So verweist Franz Dobler, laut Selbstauskunft „Schriftsteller, Journalist, DJ, Hörspielmacher und ein großer Kenner und Liebhaber von Country-Musik“, in einer Rezension in der Jungen Welt auf einen der Höhepunkte des Augsburger Brechtfestivals 2006: Die Videoinstallation „Radwechsel“ des Musikers Saam Schlamminger.

Franz  Dobler (Foto: Wikipedia)

Franz Dobler (Foto: Wikipedia)

Wie Dobler schreibt, bat Schlamminger mit Hilfe des Goethe-Instituts „Personen [aus allen Kontinenten], denen Brecht was bedeutet, [sie] mögen ein Gedicht ihrer Wahl sprechen und sich dabei filmen (lassen) an einem alltäglichen oder für sie wichtigen Ort. 37 kurze Filme kamen zurück und wurden zu einer 70-Minuten-Dokumentation verbunden. Schlammingers “Manipulation”, wie er es nennt, war die Reihung und das Angleichen oder vorsichtige Überblenden der vorhandenen Sounds. Ein Abenteuerfilm: die Gesichter, die Gedichte, die Sprachen, die Orte, die Sounds, die Styles, die Nicht- und die Inszenierung, die Bemühung, der Dilletantismus, das Professionelle, das Ernste und Komische. Es ist unglaublich, es ist wunderbar, spannend, anrührend, umwerfend.“

Stimmt. Hier ist eine gekürzte Fassung, die man bei youtube sehen kann.


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7 Gedanken zu “Bertolt Brechts Gedicht „Radwechsel“

  1. Elisabeth

    (Mein Gegengedicht:)

    Der Rat-Wechsel
    Er sitzt am Straßenhang.
    Der Fahrer wechselt das Rad.
    Er ist nicht gern, wo er herkommt.
    Er ist nicht gern, wo er hinfährt.
    Warum
    hilft er nicht Radwechseln?

    1. Quinn

      Sehe ich auch so. Hoffentlich hat er dem Fahrer seine Hilfe angeboten, und der sagte, danke, es geht schneller wenn ich’s alleine mache.

  2. Alexander

    Ich hatte dieses Gedicht immer als Ausdruck einer inneren Unrast, einer prinzipiellen Ungeduld verstanden, als, wenn man so will, poetischen Ausdruck der Schwierigkeit, dem buddhistischen Ideal des heiteren und gelassenen Lebens im Moment gerecht zu werden.

    Ich denke mit diesen Zeilen ist alles gesagt, Politik, Geldstreitigkeiten, Überinterpretation hin oder her.

    Die Schwierigkeit bzw. fast Unmöglichkeit liegt darin, die innere Unrast loszuwerden.

  3. Krebs

    Ich hatte 1977 im Abitur den Radwechsel und Goethes „Ein Gleiches“ vergleichend zu besprechen. Hat mir gefallen. Besonders Goethe.

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