Schachleidenschaft: Yasser Seirawans Chess Duels

chessduels_coverElegant im Auftreten, mit sanfter weicher Stimme, voll Lebenslust und optimistischer Ausstrahlung, ob als Spieler, Autor, Organisator, Ideengeber oder Kommentator: Yasser Seirawan ist eine der markantesten Persönlichkeiten der Schachwelt. Stets wirkt er so, als hätte ihn Schach glücklich gemacht und würde ihn immer noch glücklich machen. Warum das so ist, erklärt er leidenschaftlich und unterhaltsam in seinem Buch Chess Duels, einem Rückblick auf seine Schachlaufbahn, die Schachwelt der letzten 50 Jahre und Seirawans Partien und Begegnungen mit den Weltmeistern und Größen des Schachs.

Mit 12 Jahren kam Seirawan erst relativ spät zum Schach. Geboren wurde der vierfache US-Champion am 24. März 1960 in Damaskus als Sohn eines syrischen Vaters und einer englischen Mutter. Wegen politischer Unruhen verließ die Familie Syrien im März 1964, um erst nach England und dann drei Jahre später in die USA zu gehen, wo Seirawans Vater bei Boeing in Seattle arbeitete. 1968 trennten sich die Eltern und Seirawan lebte mit seiner Mutter in verschiedenen amerikanischen Städten, bis sie 1972 wieder nach Seattle zogen.

Die häufigen Wechsel zwischen Städten, Kontinenten und Kulturen scheinen Seirawan nicht geschadet zu haben. Er ist vielseitig begabt, interessiert und ehrgeizig: „Ob beim Sport, in der Schule oder als Zeitungsjunge, ich wollte der Beste sein. Nicht nur der Beste, sondern herausragend. Ja, ich wollte gewinnen und nicht nur nach den Buchstaben der Regeln, sondern auch im Geiste der Regeln. Wenn ich glaubte, ein Schiedsrichter hätte eine Fehlentscheidung getroffen, dann gab ich der gegnerischen Mannschaft den Ball, was mich bei meinen Mitspielern nicht immer beliebt machte.“

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Yasser Seirawan (Foto: Wikipedia)

Zum Schach kommt er 1972, dem Jahr, in dem Bobby Fischer Weltmeister wird. Ein Nachbar erklärt ihm die Regeln, sie spielen eine Partie, Seirawan verliert und sein Ehrgeiz ist entfacht. Schon bald besucht er regelmäßig die Schachcafés im Uni-Viertel von Seattle und macht eine steile Karriere. Mit 13 wird er amerikanischer Jugendmeister, mit 19 Jugendweltmeister und im Januar 1980 Großmeister, nach Fischer, Spassky und Henrique Mecking der damals viertjüngste Großmeister aller Zeiten. Diese Erfolge verhalfen Seirawan zu einer Auszeichnung, die nur wenigen Schachspielern zuteil wird: 1980 kürt ihn der amerikanische Playboy zum „Junggesellen des Jahres“. Mittlerweile ist Seirawan mit Yvette Nagel, der Tochter eines bekannten holländischen Politikers, verheiratet.

Ganz so rasant ging Seirawans Karriere nach diesem fulminanten Aufstieg nicht weiter, aber im Laufe der folgenden Jahre kann er sich in der Weltspitze etablieren und qualifiziert sich zwei Mal für das Kandidatenturnier. Auch als Autor ist er erfolgreich. Er schreibt eine Reihe von unterhaltsamen und populären Schachbüchern und gibt von 1988 bis 2000 die Zeitschrift Inside Chess heraus. Zugleich ist er in der Schachwelt als Ideengeber, Vermittler, Organisator und Ratgeber eine Figur, deren Stimme Gewicht hat. So ist es kein Zufall, dass Seirawan das Kunststück gelingt, als ehemaliger Sekundant von Kortschnoi das Vertrauen von Kasparov und Karpov zu gewinnen und im Laufe der Jahre immer wieder mit ihnen zusammen zu arbeiten.

2003 zieht sich Seirawan für einige Jahre vom Turnierschach zurück, bleibt dem Spiel und der Schachwelt aber treu. Sein tiefes Schachverständnis, seine ruhige, locker-leidenschaftliche Art und seine weiche Stimme machen ihn bei großen Turnieren zu einem beliebten Kommentator. 2011 kehrte Seirawan erfolgreich in die Turnierarena zurück und mit einer Elo-Zahl von 2620 Punkten (Mai 2013) liegt in der Weltrangliste auf Platz 169 der aktiven Spieler.

Titelbild von “Chess Duels”

Yasser Seirawan
Chess Duels: My Games with the World Champions
432 Seiten, gebunden, 1. Auflage 2010, ca. €24,95.
(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Seirawans Schachbegeisterung macht Chess Duels zu einem besonderen Buch. Teils Autobiographie, teils Anekdotensammlung, teils Geschichtsbuch lässt Chess Duels Schachgeschichte und Schachspieler lebendig werden – den roten Faden bilden dabei Seirawans Begegnungen mit den Schachweltmeistern: „In meiner Karriere hatte ich Glück. Ich habe Max Euwe und Mikhail Botvinnik getroffen und mit ihnen geredet, mit Fischer analysiert, und mit Vassily Smyslov, Mikhail Tal, Tigran Petrosian, Boris Spassky, Anatoly Karpov und Garry Kasparov gespielt.“ Zugleich gibt Seirawan in seinen gründlich und ehrlich kommentierten Partien einen verblüffend offenherzigen Einblick, wie Spitzengroßmeister denken, wie stark sie spielen, wie viel sie während der Partie sehen, aber auch, wie viel sie übersehen. Wie Seirawan sagt, „zeigt sich, dass eine Schachkarriere einer interessanten Partie gleicht – nicht so hübsch und ordentlich, einfach oder leicht zu verfolgen, wie sich mancher das wünscht. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch umso besser ist, da es kein hübsches ordentliches Werk ist.“

Das funktioniert, weil Seirawan genau beobachtet, präzise analysiert, Mut zur Offenheit und eigenen Meinung hat, aber vor allem, weil er ein begnadeter Erzähler ist. Manchmal ist er vor Begeisterung allzu wortreich, aber er erzählt spannend, lebhaft und packend und kann Orte, Menschen und Situationen in nur wenigen Strichen lebendig machen. Zum Beispiel, als er beschreibt, wie er 1975 mit Freunden nach Vancouver fährt, um Keres spielen zu sehen: „Es war aufregend, einen Weltklassespieler in Aktion zu sehen. Sein Auftreten, seine Haltung, seine gelassene Einstellung der Partie gegenüber, die Genauigkeit seiner Züge und die Präzision, mit der er sie ausführte, hinterließen einen tiefen Eindruck. Besonders fasziniert verfolgte ich, wie er seine Figuren zog und sie sorgfältig korrekt in die Mitte des jeweiligen Feldes stellte, um seinen Gegner nicht zu ärgern. Später habe ich zu Hause geübt, um seine Bewegungen nachahmen zu können … . Kurz gesagt wollte ich Weltklasse sein und mich wie ein Weltklassespieler benehmen. Ich wollte, zumindest vom Auftreten her, wie Paul Keres sein.“

Paul Keres

Paul Keres

Doch bei aller Begeisterung – Heldenverehrung betreibt Seirawan nicht. Er porträtiert seine Großmeisterkollegen zwar warmherzig, aber spart ihre Schwächen und Eigenheiten nicht aus. Zum Beispiel, als er erzählt, wie sich Karpov bei der Olympiade 1980 in Malta weigert, dem aus der Sowjetunion emigrierten Lev Alburt vor der Partie die Hand zu geben. „Ich merkte, wie ich wegen dieses Vorfalls von Karpov enttäuscht war. Viele Jahre später fragte ich ihn danach. ‚Warum Lev nicht einfach die Hand geben?’, fragte ich ihn unschuldig. Seine Erklärung zeigte, wie weit die Welten, in denen wir lebten, voneinander entfernt waren: ‚Yasser, das war die Zeit der Sowjetunion. … Wir wurden die ganze Zeit über beobachtet. Alles, was wir gesagt oder getan haben, wurde irgendwie überwacht oder ‚aufgezeichnet’. Lev war ein Überläufer. Dem Staat zufolge offiziell ein Krimineller. Wenn ich dabei beobachtet worden wäre, wie ich ihm die Hand gebe, dann hätte man über mich Bericht erstattet und ich hätte mich einer Befragung unterziehen müssen und hätte mich erklären müssen. … Es wäre ein schwarzer Fleck in meiner Akte gewesen.’“ Seirawan kommentiert: ‚So gesehen konnte ich Anatolys Entscheidung verstehen. Ich hätte auch nicht gerne einen schwarzen Fleck in meiner CIA-Akte. Hmm – habe ich eine CIA-Akte?’“

Anatoly Karpov (Foto: Wikipedia)

Angenehm ist, dass Seirawan dabei eigene Fehler und Schwächen eingesteht, zum Beispiel, als er zugibt, beim Turnier in Linares 1981 zusammen mit Larry Christiansen Karpov und Kavalek beim Bridge beschummelt oder Kasparov einmal mit einer undiplomatischen Bemerkung über Mutterbeziehungen vor den Kopf gestoßen zu haben.

Chess Duels enthält Geschichten, Anekdoten und Porträts herausragender Figuren der Schachwelt und ist zugleich ein Insiderbericht über die Schachgeschichte der letzten 30 Jahre. Seirawans Schachbegeisterung, sein Optimismus und seine Lust am Leben sind stets spürbar und machen Chess Duels zu einem der interessantesten Schachbücher der letzten Jahre.

Nicht zu vergessen die Partien. Hier zwei typische Beispiele, wie Seirawan kommentiert, eine bittere Niederlage und ein glänzender Sieg.


Abschließend schreibt Seirawan: “Eine dieser wirklich, wirklich schmerzhaften Niederlagen, die man während des schlimmsten Turniers seines Lebens erleidet. … Doch bevor wir Linares 1983 verlassen, noch ein kleiner Exkurs, um zu zeigen, wie zornig die Götter auf mich waren. Aus irgendeinem Grunde lockte mich 1982/1983 der Gedanke, einen Roman zu schreiben. … Erst wurde ein Ringbuch vollgeschrieben, dann ein anderes, bis ich meinen Roman schließlich mit fünf dicken Ringbüchern im DIN A4 Format zum Abschluss brachte. … Bis zu diesem Turnier hatte ich die Ringbücher immer im Handgepäck mitgenommen, aber jetzt war der Roman beendet und es schien sinnvoll, die voluminösen Ringbücher bei meinem Flug nach Madrid im Koffer zu verstauen, der als Gepäck aufgegeben wurde. Doch mein aufgegebenes Gepäck kam nie in Madrid an. Eine Versicherungsgesellschaft ersetzte mir den Schaden für den eingecheckten Koffer, aber mein Roman war verloren. Da ich alles handschriftlich geschrieben hatte, verfügte ich natürlich auch über keine Kopien….”

Besser erging es Seirawan in der folgenden Begegnung. 1982 besiegte er den damaligen Weltmeister Karpov in einer Aufsehen erregenden, theoretisch bedeutsamen Partie.

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