„The King Stay the King“: Schach in The Wire

dangelo300Über die Fernsehserie The Wire bin ich durch Zufall gestolpert, als ich die DVD-Box mit der ersten Staffel an einem Freitagnachmittag in der Nürnberger Stadtbibliothek entdeckte. Am Samstag schaute ich mir die erste Episode an. Nach der zweiten war ich süchtig. Nach den zahlreichen, vielschichtigen Charakteren, der Spannung, der verschachtelten Erzählstruktur, den Dialogen voller Tempo und Poesie, dem einzigartigen Rhythmus der Serie. The Wire enthält viele phantastische Szenen, eine hat es mir besonders angetan. Sie stammt aus der dritten Folge der ersten Staffel.

D’Angelo erklärt Bodie und Wallace Schach

Die Szene beginnt, als D’Angelo zu Wallace und Bodie kommt, die vor einem Schachbrett sitzen. D’ Angelo  kontrolliert für seinen Onkel Avon Barksdale den Drogenhandel in diesem Teil Baltimores und auch Wallace und Bodie arbeiten für Barksdale, sie wickeln die Drogengeschäfte auf der Straße ab. D’Angelo ist mit ihnen befreundet, aber steht in der Hierarchie der Drogenhändler höher. Als er sieht, wie die beiden mit Schachfiguren Dame spielen, erklärt er ihnen, wie Schach funktioniert und was das Ziel des Spiels ist: „You get the other’s dude’s king, you got the game. He trying to get the king too, so you got to protect it“.

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D’Angelo Barksdale, gespielt von Larry Gilliard Jr.

Er zeigt ihnen, wie die Figuren ziehen, welche wichtig und welche stark sind und entwirft dabei ein Abbild der Welt, in der die drei leben. Der König – „he move any place any direction he damn’ chose, ’cause he’s the king“  – entspricht seinem Onkel, dem Chef der Drogenhändler. Die Dame, „the go-get-shit-done-piece“ (eine Beschreibung, die man bei seiner nächsten Schachpartie durchaus im Gedächtnis behalten könnte), steht für die rechte Hand von Avon Barksdale, den charismatischen Stringer Bell, der das Drogengeschäft wie ein ganz normales Unternehmen organisiert und von einer Karriere als Geschäftsmann träumt.

Als Bodie fragt, welche Rolle die Bauern, „the little ball-headed bitches“, spielen, erklärt D’Angelo: „They are the soldiers. They are in the frontline.“

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Bodie, gespielt von J.P. Williams

Daraufhin fragt Wallace, der klug und sensibel ist und der Welt des Drogenhandels mit ihrer Gewalt entkommen möchte: „Then, how do you get to be the king?“ D’Angelo antwortet: „It ain’t like that. You see, the king stay the king. The pawn, make it all the way to the other dude’s side, he get to be queen.“ Worauf Bodie, der weiß, welche Rolle er in der Welt des Drogenhandels spielt, fragt: „If I make it to the other side, then I win?“ Doch D’Angelo muss ihn enttäuschen: „If you catch the other dude’s king … then you win. … The pawns, man, in the game they get capped quick. They be out the game early. Unless they are some smart-ass pawns.“

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Wallace, gespielt von Michael B. Jordan

Ein hoch symbolischer Satz, der Spannung erzeugt, denn wer weiß, ob Bodie, Wallace oder D’Angelo tatsächlich „smart-assed“ genug sind, um am Leben zu bleiben, bis sie in der Hierarchie der Drogenhändler „top-dog“ sind, oder ob sie das Schicksal vieler Bauern im Schach teilen müssen, die bei einem Schlagabtausch vom Brett verschwinden oder irgendwann ohne größere Bedenken geopfert werden. Alle drei sind Drogenhändler, die das Leben ihrer Mitmenschen zerstören und für die Gewalt zum Alltag gehört, aber diese Szene macht deutlich, dass sie zugleich Täter und Opfer sind. Der Zuschauer fühlt mit ihnen, nicht zuletzt durch ihre unschuldige Beschäftigung mit dem Schach, die sie sympathisch macht.

Die Nebensache Schach diente in der Literatur- und Kulturgeschichte oft als Symbol für gesellschaftliche Zustände und menschliches Verhalten. Im 14. Jahrhundert veranschaulichte der italienische Dominikanermönch Jacobus de Cessolis in seinem Werk Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum (Buch von den Sitten der Menschen und den Pflichten der Vornehmen und Niederen durch das Schachspiel) die mittelalterliche Gesellschaft, 1779 veröffentlicht Benjamin Franklin mit seinen Morals of Chess einen frühen Lebensratgeber, im James Bond Film Liebesgrüße aus Moskau steht Schach für kalte skrupellose Intelligenz und in The Wire zeigt das Schach den Charakter, die Ambitionen und die soziale Stellung zentraler Charaktere der Serie – in nur etwas mehr als drei Minuten. Spannend, temporeich, glaubwürdig und brillant. Das ist starker Stoff – und davon gibt es in The Wire jede Menge.

Wikipedia-Eintrag The Wire
The Wire bei imdb (International Movie Database)
KARL (1/2009), Schwerpunkt: Schach im Film

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