„Follow the Money“: Ian Hamiltons moderne Heldin Ava Lee
Was tun, wenn man um Millionen betrogen wurde, die nun auf irgendeinem Konto irgendeiner Bank der Welt liegen und anderen Zinsen bringen, doch derjenige, der Konto und Millionen jetzt verwaltet, genauso unauffindbar ist wie das Geld? Was tun, wenn Polizei, Justiz und alle anderen nicht helfen können oder wollen? Ganz einfach: Man wendet sich an Ava Lee, eine in Toronto lebende Chinesin, „1,62 Meter groß, um die 52 Kilo, schlank“, Wirtschaftsprüferin, modebewusst, Feinschmeckerin, lesbisch und rundherum bemerkenswert.
In mittlerweile sechs Romanen des 1946 in Toronto geborenen kanadischen Autors und Journalisten Ian Hamilton sucht Ava Lee rund um den Globus nach verschwundenem Geld. Hamilton war als Journalist, Diplomat und Geschäftsmann jahrelang auf Reisen und kennt die Welt der Politik und Finanzen. Die Idee zur Reihe um Ava Lee kam ihm nach einem Krankenhausaufenthalt, zu dem ihn eine lebensbedrohliche Krankheit gezwungen hatte.
Das deutsche Publikum kann Hamiltons Heldin Ava Lee in bislang drei Romanen auf ihren Reisen begleiten und ihren Mut, ihren Verstand und ihre skrupellose Zielstrebigkeit bewundern. Erschienen sind die Bücher im Schweizer Verlag Kein & Aber, übersetzt hat sie Simone Jakob. Ihr Deutschlanddebüt feierte Ava Lee 2011 in Die Wasserratte von Wanchai, im gleichen Jahr suchte sie nach dem Jünger von Las Vegas und seit kurzem kümmert sich Ava Lee um die Die wilden Bestien von Wuhan.
Im ersten Band der Reihe, Die Wasserratte von Wanchai bekommt Ava Lee den Auftrag, fünf Millionen Dollar zu suchen, um die der Neffe eines Geschäftsfreunds ihres Partners betrogen wurde. Lees Partner ist „Onkel“, ein alter Chinese, der in Hongkong lebt, einflussreich und mächtig ist, zahllose Verbindungen und hochrangige Freunde hat und möglicherweise dem organisierten Verbrechen angehört. Er ist Auftraggeber, Berater und väterlicher Freund Ava Lees, aber nicht direkt mit ihr verwandt – „Onkel“ nennt sie ihn aus Respekt.
Auf der Suche nach den fünf Millionen reist Ava nach Hongkong, Bangkok, auf die British Virgin Islands und schließlich nach Guayana, von Flughafen zu Flughafen, von Hotel zu Hotel, von Restaurant zu Restaurant, immer am Handy oder im Internet. Sie recherchiert im Netz, mit Hilfe von Freunden „Onkels“, Privatdetektiven, Bestechung und mehr oder weniger freundlichen Gesprächen mit Personen, die ihr auf der Suche nach Geld und Betrüger begegnen. Hat ihr Gegenüber keinen Sinn für Freundlichkeit und Kompromiss, greift sie zu Erpressung, Gewalt und Folter. Denn sie will ihren Auftrag erfüllen: zielstrebig, zweckmäßig, hartnäckig. Weil sie ihre Arbeit gut machen will, aber auch, weil sie damit viel Geld verdient. „Onkel“ und sie bekommen bei jedem Auftrag 30 Prozent des wieder beschafften Geldes als Provision, davon erhält Ava Lee die Hälfte, bei fünf Millionen immerhin 750.000 Dollar.
Bei so viel Geld geht es nicht immer gesittet zu. In Die Wasserratte von Wanchai hat sie es mit einem geldgierigen, mächtigen und gefährlichen Gegner zu tun, mit dem sie sich arrangieren muss, der sie jedoch zugleich erpresst und mit Gewalt bedroht. Doch Ava Lee kann sich wehren. Sie beherrscht Bak Mei, einen geheimen, nur von Meister an ausgewählte Schüler und Schülerinnen weiter gegebenen, effizienten und tödlichen Kampfsport. Eine nützliche Fähigkeit in der brutalen Welt, in der sich Ava Lee bewegt. Denn schließlich will sie Betrüger und Verbrecher überzeugen, Geld, das ihnen nicht gehört, zurückzugeben.
Dieser Grundkonflikt und die damit verbundene latente Gewalt macht Hamiltons Romane spannend. Zu verfolgen, wie Ava Lee komplizierte Betrugsfälle voller überraschender Wendungen mit detektivischem Scharfsinn aufklärt, macht die Reihe unterhaltsam und anregend.
Dabei ist Ava Lee eine moderne Heldin. Sie widerspricht klassischen weiblichen Rollenmodellen, weil sie unabhängig ist, kühl kalkuliert, rational, zweckmäßig, rücksichtslos und brutal handelt. Sie entspricht klassischen weiblichen Rollenmodellen, weil sie auch als Geldeintreiberin auf Verständnis, Kompromiss und Kommunikation setzt. Genau diese Mischung macht sie in ihrem Beruf so erfolgreich. Es ist sicher kein Zufall, dass die Figur Ava Lee zu einer Zeit auftaucht, in der sich das gesellschaftliche Rollenbild der Frau ändert. Und es ist sicher kein Zufall, dass in Zeiten einer globalisierten Welt, deren Finanzgefüge immer brüchiger wirkt, eine Geldeintreiberin Heldin eines Kriminalromans wird.
„Organisierte Korruption ist immer besser als Korruption ohne Regeln“, lautet der Geschäftsgrundsatz von Ava Lee und „Onkel“, ihrem Partner, der, wie der Roman andeutet, womöglich eine einflussreiche Figur des Organisierten Verbrechens ist.
DIE WASSERRATTE VON WANCHAI
Orig.: The Water Rat of Wanchai
aus dem Amerikanischen von Simone Jakob
Kein & Aber Verlag
Coverbild: Daniel Hughes
gebunden, 434 Seiten
Format 11,6 x 18, 5 cm
ISBN: 978-3-0369-5605-3
19.90 €, 23.90 CHF
Ava Lees zweiter Fall: Der Jünger von Las Vegas
Ian Hamiltons Ava Lee-Webseite
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