Versöhnlich: Rhidian Brooks „Niemandsland“
„Ihre Fähigkeit, das Fehlverhalten anderer zu übersehen, ist grenzenlos. Sie sind mir wirklich ein Rätsel.“ Das sagt Major Burnham über seinen Gegenspieler Colonel Lewis Morgan, einen der Hauptcharaktere von Rhidian Brooks Niemandsland. Morgan ist 1946 als Offizier der britischen Armee nach Hamburg gekommen und tatsächlich hätte er mehr als genügend Grund die Deutschen zu hassen. Sein ältester Sohn Michael starb bei einem Bombenangriff der Deutschen auf England, seine Frau Rachael hat er seit drei Jahren nicht gesehen.
Doch als die britische Verwaltung Morgan die Villa des Architekten Stefan Lubert, ein luxuriöses Anwesen an der Elbe, das den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden hat, als Quartier zuweist, entschließt er sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Obwohl Morgan das Recht und die Macht hätte, den Eigentümer und die Bewohner des Hauses zu vertreiben, bietet er ihnen an, in dem großen Haus wohnen zu bleiben und es mit Morgans Familie zu teilen. Eine Großzügigkeit, die zu Problemen führt.
Denn Morgans Frau, die ihrem Mann im Rahmen der Familienzusammenführung aus England ins besetzte Deutschland nachreist, ist durch den Tod ihres Sohnes verbittert und innerlich erstarrt. Die nachsichtige Haltung ihres Mannes den Deutschen gegenüber, seine scheinbare äußere Ruhe, die auf einen Mangel an Emotionen zurückzugehen scheint, entfremdet die beiden weiter voneinander.
Doch auch der ehemalige Hausherr Lubert hat Probleme, mit der Großzügigkeit von Morgan umzugehen. Denn Luberts Frau Constanze fiel den Bombenangriffen der Alliierten im Juni 1943, dem so genannten Feuersturm, zum Opfer, und Lubert empfindet die Engländer in seinem Haus als Eindringlinge. Aber er hat Angst, seinen Antrag auf Entnazifizierung zu gefährden, wenn er sich gegenüber den Besatzern falsch verhält.
Luberts Tochter Frieda hingegen lehnt die Morgans rundheraus ab und freundet sich mit einem jungen Mann an, der den Werwölfen nahesteht, einer Naziorganisation, die Anschläge gegen die Engländer plant und durchführt.
Von dieser Grundkonstellation ausgehend erzählt Brooks, wie die verschiedenen Bewohner des Hauses miteinander umgehen, wie sich misstrauen, sich ablehnen und sich zueinander hingezogen fühlen. So sucht Lubert nach neuen Möglichkeiten, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen und wieder Kontakt zu seiner Tochter zu bekommen, während Colonel Lewis Morgan darum kämpft, die Zuneigung seiner Frau wiederzugewinnen und mit Zweifeln ringt, ob seine nachsichtige, versöhnliche Haltung gegenüber den besiegten Deutschen richtig und angemessen ist. Rachael Morgan hingegen findet schließlich einen überraschenden Weg, mit der Trauer um den Tod ihres Sohnes umzugehen und sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.
Brooks schreibt schnörkellos, souverän und angenehm altmodisch. So gelingt es ihm, eine spannende, berührende Geschichte voller überraschender Wendungen zu erzählen und dabei die Vorzüge von Mitgefühl, Menschlichkeit und des Verzeihens zu betonen ohne sentimental oder belehrend zu werden.
Niemandsland erschien 2013 in England unter dem Titel The Aftermath und natürlich könnte man einwenden, dass die Haltung der Versöhnung, die eines der Grundthemen des Buches bildet, eher der heutigen Zeit entspringt, doch dafür 1946, dem Jahr, in dem die Geschichte spielt, kein Platz war.
Mag sein, aber dennoch wurde Niemandsland von Brooks’ eigener Familiengeschichte inspiriert. Im Nachwort dankt Brooks seinem Vater, „dass er mir erzählt hat, wie mein Großvater Walter Brook 1946 in Hamburg ein Haus für seine Familie beschlagnahmte und etwas Einzigartiges tat: Er erlaubte den Eigentümern, in ihrem Haus zu bleiben.“
Rhidian Brook: Niemandsland
btb-Verlag 2015, 9,99€
- Partie des Monats: März 2016
- Partie des Monats: April 2016