„Stilübungen“ von Raymond Queneau
Manchmal kommt es auf das „Wie“ an, nicht auf das „Was“. Was das literarisch bedeutet, demonstrierte der französische Autor Raymond Queneau (geboren am 21. Februar 1903 in Le Havre, gestorben am 25. Oktober 1976 in Neuilly bei Paris) virtuos verspielt in seinen Stilübungen – einem formell kühnen und originellen Buch, in dem man immer wieder mit Genuss und Vergnügen lesen kann. Das französische Original erschien 1947, die deutsche Übersetzung 1961 im Suhrkamp Verlag. Die von Queneau erzählte Geschichte ist denkbar banal. Sie steht gleich zu Beginn unter „Angaben“.
„Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedes Mal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich darauf.
Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: ‚Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.’ Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.“ (Raymond Queneau, Stilübungen, Suhrkamp 1989, [Erstausgabe 1961], S.7.)
So weit, so albern, so uninteressant. Unterhaltsam, kühn und originell ist erst, was Queneau daraus macht: Er erzählt dieses triviale Ereignis im weiteren Verlauf des Buches immer wieder, in insgesamt 99 stilistisch unterschiedlichen Varianten mit Überschriften wie „Gegenwart“, „Alexandriner“, „Icke, icke“ „Ausrufe“, usw., usw.
Unter Genauigkeiten liest sich das so:
„In einem 10 m langen, 3 m breiten und 6 m hohen Autobus der Linie S rief um 12.17 Uhr, gerade als er 3 km 600 m von seinem Ausgangspunkt entfernt war, ein 27 Jahre, 3 Monate und 8 Tage altes, 1,72 m großes und 65 kg schweres Individuum männlichen Geschlechts, das einen 35 cm hohen Hut trug…“.
Ungeschickt bietet eine geschickte Parodie auf ungeschicktes Schreiben:
„Ich habe keine Übung im Schreiben. Ich weiß auch nicht. Ich würde zu gern mal eine Tragödie oder ein Sonett oder eine Ode schreiben, aber da gibt’s die Regeln. Das stört mich. Das ist nichts für Amateure.“
Das Haiku lautet kurz und knapp:
„S und langer Hals
Fußtritt Schrei und Rückzug
Bahnhof Knopf Begegnung
Staunend verfolgt man, wie Queneau dem banalen Ereignis im „Autobus S“ durch die sprachliche Darstellung immer neue Aspekte abgewinnt. Das macht er amüsant und virtuos und erinnert so daran, was mit Sprache möglich ist und wie die Darstellung von Dingen unsere Wahrnehmung und unser Denken beeinflusst.
Großen Respekt verdient dabei natürlich die Leistung des Übersetzers Eugen Helmlé.
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