Schönheit und Schadenfreude

mona_lisaManch schöne Schachpartie will man irgendwann einfach nicht mehr sehen. Zum Beispiel die Begegnung zwischen Vladimir Bagirov (1936-2000) und Eduard Gufeld (1936-2002), gespielt 1973 im Halbfinale der sowjetischen Meisterschaft. Gufeld, man muss es zugeben, spielte phantastisch. Was er bis zum Ende seines Lebens allen, die es hören oder auch nicht hören wollten, immer wieder erzählt hat. Ohne allzu große Bescheidenheit ernannte er diese Partie zu seiner „Mona Lisa“ und pries ihre Brillanz in vielen Büchern und zahllosen sich immer wiederholenden Zeitschriftenartikeln. Unermüdlich sang er dabei ein Loblied auf Kreativität und Schönheit. Doch wenn man den vielen Geschichten, die über Gufeld kursieren, Glauben schenken darf, kümmerte ihn Schönheit wenig, Geld umso mehr.

Wie der in der Sowjetunion geborene und nach Holland emigrierte Großmeister Genna Sosonko in seinem Buch The Reliable Past schildert, arbeitete Gufeld als Informant für den KGB und kannte weder Skrupel noch Hemmungen, wenn es um den eigenen Vorteil ging. Beim Blitzen „stellte er, wenn er mit Weiß rochierte, den Turm gleich nach e1, und mit Schwarz brachte er seine Dame in der Stonewall-Verteidigung der Holländischen Verteidigung mit Schwung direkt von d8 nach h5, um keine Zeit beim Angriff zu verlieren“, (Genna Sosonko, The Reliable Past, Alkmaar: New in Chess 2003, S. 176). Einmal, so Sosonko, war Gufeld „bei einem Turnier in Vilnius bereits auf dem Weg in den Spielsaal, um eine Hängepartie weiterzuspielen, als er erkannte, dass der von ihm abgegebene Zug forciert verliert. Er rannte in den Turniersaal, riss dem Schiedsrichter den Umschlag aus der Hand, öffnete ihn und aß das Partieformular, um so das Geheimnis des Abgabezugs in sich zu begraben.“ (The Reliabe Past, S.176).

Wenn jemand wie Gufeld die Schönheit preist, wirkt das nicht ehrlich, sondern marktschreierisch, berechnend, wie ein mehr oder weniger raffinierter Versuch, sich einen Vorteil zu sichern. Dennoch: Bei allen Vorbehalten gegen die Vermarktung dieses kleinen Meisterwerks durch seinen Schöpfer, hier noch einmal und für alle, die sie noch nicht kennen: Gufelds „Mona Lisa“.

Auf den ersten, zweiten, vielleicht sogar dritten oder vierten Blick wirklich eine großartige Partie. Man kann Gufeld verstehen, wenn er schreibt: „Jeder Künstler träumt davon, seine eigene Mona Lisa zu schaffen, und jeder Schachspieler davon, seine eigene Unsterbliche Partie zu spielen. Keine Partie hat mir so viel Befriedigung bereitet wie diese. Noch immer überkommt mich ein Gefühl des Glücks, wenn ich an sie denke. In solchen Momenten geraten alle meine Fehlschläge am Schachbrett in Vergessenheit und es bleibt nur die Freude über einen Traum der wahr geworden ist.“ (Zitiert in The World’s Greatest Chess Games, S. 372)

Ja, abgesehen von allen zukünftigen Gegnern kann man jedem Schachspieler das wunderbare Gefühl eine solch phantastische Partie gespielt zu haben, eigentlich nur gönnen: Strategisch kreativ, einfallsreich, originell, gekrönt von einem hübschen taktischen Abschluss, bei dem die Opfer endlich einmal funktionieren.

Doch nachdem mich Gufeld in Eröffnungsbüchern, Zeitschriften und Partiensammlungen immer wieder daran erinnert hat, wie schön diese Partie ist und wie großartig er sie gespielt hat, konnte ich mich eines Gefühls der Schadenfreude nicht erwehren, als ich über das folgende kleine Juwel stolperte – hier gewinnt der Marketing-Mann in Sachen schönes Schach nicht spektakulär, sondern verliert spektakulär.

Kommentar Gufeld: „Diese Partie hat mir gezeigt, dass der schwarzfeldrige Läufer eine ganz eigene Zauberkraft besitzt.“ Einmal mehr behielt Gufeld so das letzte Wort.

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