Trügerische Illusionen

Zauberer sind faszinierend. Sie können Gedanken lesen, Kaninchen aus dem Hut zaubern, Frauen zersägen, Münzen durch Tische werfen und vieles mehr. Dr. Andriy Slyusarchuk (Foto), ein 39-jähriger Neurologe aus der Ukraine, spielt Schach – blind besser als Rybka. Zum Beweis ist er vor kurzem zu einem Blindwettkampf gegen das Programm angetreten und hat mit 1,5:0,5 gewonnen, das ukrainische Fernsehen war dabei und hat gefilmt.

Das ist nur eine der erstaunlichen Leistungen des Ukrainers. Nach eigener Aussage kennt er 20.000 Bücher auswendig und 30 Millionen Nachkommenstellen der Zahl Pi. Die meisten Menschen sind dankbar, wenn sie den Mörder ihres letztes Urlaubskrimis erinnern, und wer im Alter von 39 Jahren 20.000 Bücher gelesen haben will, müsste, wenn er mit zwei lesen lernt – doch das tun Genies wie Slyusarchuk ja in der Regel – jedes Jahr 540 Bücher lesen, also etwa anderthalb pro Tag. Wie lange es dauert, 30 Millionen Zahlen aufzusagen, kann jeder leicht herausfinden, indem er bis Hundert zählt, die Zeit misst, die er dafür gebraucht hat und diesen Wert mal 300.000 nimmt. Schnellsprecher kommen vielleicht auf 100 Zahlen pro Minute, für 30 Millionen Zahlen bräuchten sie dann 5000 Stunden, das heißt, für 30 Millionen Zahlen bräuchte jemand 208 Tage – vorausgesetzt er rattert 100 Zahlen pro Minute 24 Stunden am Tag herunter. So gesehen kann man dankbar sein, dass der ukrainische Neurologe seine geistige Kraft in einem kurzen Schachwettkampf bewiesen hat.

Dass Slyusarchuk vorher noch nie schachlich in Erscheinung getreten ist – weder GM, noch IM oder FM ist oder auch nur irgendeinen Titel gewonnen hat – macht ja nichts, Männer wie er lesen einfach einmal kurz 3.000 Bücher zum Thema und, schwupps, werden Schachprogramme vom Brett gefegt, die jeden Großmeister alt aussehen lassen. Ja, ja, die Kraft des Willens und das ungenutzte Potenzial des Gehirns.

Das Ganze erinnert an den Schachautomaten des Wolfgang von Kempelen, nur mit vertauschten Rollen. Zu einer Zeit, als Maschinen noch kein Schach spielen konnten, konstruierte von Kempelen einen Apparat, der, so schien es, besser Schach spielte als der Mensch. Heute, wo Schachprogramme besser spielen als der Mensch, kommt Slyusarchuk und besiegt die Maschine.

Zu Kempelens Zeit rätselte man, wie der Automat funktionierte, heute drängt sich die Frage auf, wie der Ukrainer gegen das Schachprogramm gewann. Vor allem, weil Slyusarchuk brillant gespielt hat, aber wie die ukrainischen Fernsehberichte zeigen, kaum über seine Züge nachdenkt, und Berichten von Schachgroßmeistern zufolge nur wenig bis gar nichts vom Schach versteht.

Wie man später herausfand, saß in Kempelens Schachtürke ein Mensch und führte mit einer Hilfe einer komplizierten Apparatur die Züge aus. Analog kann man vermuten, dass Slyusarchuk mit einem Computer gegen den Computer angetreten ist, vorzugsweise mit einem starken gegen eine schwächere Version – schließlich wollte er ja gewinnen. Die interessante Frage ist, wie er das gemacht hat. Denn wenn Slyusarchuk mit einem Trick aus dem Grundkurs der Zauberschule Rybka schlägt, dann könnte jeder Schachspieler, dessen Ehrgeiz größer ist als sein Gefühl für Fairness, auf den Gedanken kommen, den Ukrainer zu imitieren. Ist dieser Spieler sowieso schon gut und tritt unauffälliger, bescheidener und nicht so prahlerisch auf wie Dr. Slyusarchuk, dann hat er gute Chancen, unentdeckt zu bleiben. Geld, Ruhm und der Respekt einer gutgläubigen Schachwelt sind ihm sicher.

Partien…

(Erstveröffentlichung: ChessBase, 9. Mai 2011)

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