Schachblindheit: Im Archiv geblättert und immer aktuell

Die Diagrammstellung links stammt aus einer Partie zwischen Alexander Grischuk und Fabiano Caruana, die im Juni 2019 in der 6. Runde des Norway Chess Turniers gespielt wurde. Es war eine Armageddon-Partie, aber die verkürzte Bedenkzeit ist keine Erklärung für das, was jetzt geschah. Grischuk, Blitzweltmeister 2006, 2012 und 2015, und zum Zeitpunkt des Turniers mit 2772 Elo die Nummer 9 der Welt, zog hier 17.Lh6??, was Schwarz nach ganz kurzem Nachdenken mit 17…Lxh6 beantwortete, woraufhin Weiß kopfschüttelnd sofort aufgab. Offensichtlich litt Grischuk unter einem kurzen Anfall von Schachblindheit und hatte vergessen, dass die Dame auf c1 den Läufer auf h6 nicht deckt, weil ein weißer Springer auf d2 steht. Eine kuriose Niederlage, aber Schachblindheit ist eine Krankheit, die Schachspieler aller Spielstärken schon seit Jahrhunderten plagt und gegen die noch kein wirklich wirksames Gegenmittel gefunden wurde.

Amaurosis Scacchistica: Anmerkungen zur Schachblindheit
Dieser Text erschien zuerst in Karl 2/2005, S. 38-39 und wurde leicht bearbeitet.


A. Aljechin – M. Euwe, 1937, Stellung nach 26.Sc3

Das obige Diagramm zeigt eine Position aus der 16. Partie des Weltmeisterschaftskampfes 1937 zwischen Alexander Aljechin und Max Euwe, die eine der bekanntesten Partien des Blindspielkünstlers Aljechin ist. Ihre Bekanntheit verdankt sie allerdings keiner spektakulären Kombination, sondern einer kuriosen Folge grober Fehler. Euwe spielte hier 26…De5?, wobei er die einfache Kombination 27.Dh8+ Kxh8 28.Sxf7+ Kg8 29.Sxe5 mit für Weiß gewonnenem Endspiel übersah, die allerdings auch Aljechin entging. Statt mit 27.Dh8+ zu gewinnen, spielte er 26.Lb2 Lc6 27.a3 Ld6 und nach 65 Zügen endete die Partie schließlich mit Remis.

Zuschauer dieser Geschehnisse waren unter anderem Spitzenspieler wie Erich Eliskases, Reuben Fine, Salo Flohr und Samuel Reshevsky, aber auch von ihnen sah keiner diese Möglichkeit, wahrscheinlich, weil in einer Partie zwischen Aljechin und Euwe nach primitiven Kombinationen Ausschau zu halten, in diesen Kreisen als unfein galt.

Auf alle Fälle hatten sich die Großmeister, die der Partie zuschauten, von Aljechins und Euwes Schachblindheit anstecken lassen, einer Krankheit, der wohl fast alle Schachspieler schon einmal zum Opfer gefallen sind. Als studierter Mediziner, der er war, verlieh ihr Dr. Tarrasch den klangvollen lateinischen Namen Amaurosis scacchistica. (Vgl. Dr. Siegbert Tarrasch, „Über Schachblindheit“, in: Die Moderne Schachpartie, Zürich: Edition Olms 2003 [1912], S. 451-453.) Mit der Schachblindheit verhält es sich wie mit dem Schnupfen: Jeder leidet gelegentlich darunter, aber warum er einen befällt und wie man sich dagegen schützen kann, weiß niemand.

Mit einer entspannten Sicht auf den Wunsch nach Perfektion und einer Portion Schadenfreude bildet die Schachblindheit jedoch einen nie versiegenden Quell der Heiterkeit. So stellte die satirische Zeitschrift Not the British Chess Magazine, deren erste und einzige Ausgabe 1984 erschien, in eben dieser Ausgabe nicht nur die Frage, ob Vegetariern der Killerinstinkt fehlt, sondern krönte auch den „Blunder of the Year“. Den Preis gewann eine 1983 in Australien von den Herren Sztern und Lundquist gespielte Partie.


Sztern – Lundquist, Australien 1983

In dieser Stellung war Lundquist mit Schwarz am Zug und bot Remis an, was man eigentlich nur machen darf, nachdem man seinen Zug ausgeführt hat. Deshalb, oder auch weil er mehr als einen halben Punkt wollte, bat Sztern seinen Gegner, noch einen Zug zu machen. Lundquist ließ sich nicht lumpen und warf 1…Dxb2+ aufs Brett – was nach 2.Kxb2 Tb3 3.Ka2 Ta8+ zu Matt führt. Diese unerwartete Wendung der Dinge schockierte Sztern so, dass er vergaß, das immer noch gültige Remisangebot anzunehmen und sofort aufgab.

Sollte irgendjemand auf die Idee kommen, den „Blunder of the Year“ Wettbewerb regelmäßig zu veranstalten, dann braucht er sich über einen Mangel an Kandidaten keine Sorgen zu machen. So versammelt Emil Gelenczeis Little Book of Chess Blindness 180 Beispiele grober Versehen und zeigt damit, wie Schachblindheit seit jeder ein Begleiter des Turnierlebens war. Und Klaus Trautmann trug in Der letzte Fehler: 128 irrtümlich aufgegebene Schachpartien sogar zu einem Spezialgebiet der Schachblindheit genug Material zusammen, um ein ganzes Buch zu füllen. Der Klassiker dieses Genres ist zweifelsohne die 1902 in Monte Carlo gespielte Partie zwischen Ignatz Von Popiel und Georg Marco:


I. Von Popiel – G. Marco, Monte Carlo 1902, Stellung nach 35.Td1

Weiß hatte soeben 35.Td1 gezogen, und da Schwarz keine Rettung mehr für seinen gefesselten Läufer sah, gab er die Partie auf. Mit dem hübschen und überraschenden taktischen Schlag 35…Lg1! hätte er allerdings sofort gewinnen können.

Schachblindheit hat etwas Tragikomisches: umfassende Eröffnungsvorbereitung, tiefe Strategien, großartige Opfer, die erwogen und wieder verworfen werden, originelle und präzise Variantenberechnung scheitern im entscheidenden Moment alle an der Unzuverlässigkeit des menschlichen Geistes. Aber wenn man der Schachblindheit nicht selbst zum Opfer fällt, dann bleibt auch hier Schadenfreude oft die reinste Freude. Besonders gern gesehen werden dabei grobe Patzer der Großen des Schachs, die sich mit solchen Fehlern am unteren Ende des Leistungsspektrums mit dem gemeinen Schachvolk auf eine Stufe stellen. Besonders verblüffend wirken solche Fehler, wenn sie Spielern unterlaufen, die für ihr sicheres Spiel berühmt sind. So gelang Tigran Petrosian, dessen Verteidigungskunst legendär ist, beim Kandidatenturnier in Amsterdam 1956 mit Weiß gegen Bronstein eine Partie voller tiefer prophylaktischer Manöver, die dann doch nur wegen eines groben Fehlers in die Geschichte einging:


T. Petrosian – D. Bronstein, Amsterdam 1956, Stellung nach 35…Sf5

Petrosian, der sich nicht in Zeitnot befand, spielte in dieser Stellung 36.Sg5, wonach die einzige aktive Figur des Schwarzen die weiße Dame vom Brett entfernte: nach 36…Sxd6 gab Weiß sofort auf.

Man kann nur vermuten, wie sich Petrosian nach dieser Partie gefühlt hat. Aber das Leben geht weiter: sieben Jahre später wurde Petrosian Weltmeister.

Siehe auch

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