Der Tiger bleibt auf dem Berg: Der Weltmeisterschaftskampf 1961 zwischen Mihail Tal und Mikhail Botvinnik

Manche Weltmeisterschaftskämpfe erfahren in der Schachgeschichte viel Aufmerksamkeit, andere weniger. Der WM-Kampf 1960 zwischen Tal und Botvinnik wurde viel beachtet, der Revanchekampf zwischen Tal und Botvinnik 1961 sehr viel weniger. Das liegt auch daran, dass in den Augen vieler Leute der „falsche“ Spieler gewonnen hat. Mit seinem Wettkampfsieg gegen Botvinnik 1960 wurde Tal zum damals jüngsten Weltmeister aller Zeiten. Sein mutiges dynamisches Spiel begeisterte Fans in aller Welt und sein Sieg gegen Botvinnik schien ein Sieg der Phantasie gegen Logik und der Beginn einer neuen Ära zu sein. Doch nur ein Jahr später, beim Revanchewettkampf 1961, folgte die Ernüchterung: Botvinnik gewann klar mit 13 zu 8 (+10, -5, =6) und holte sich den Weltmeistertitel zurück. Allerdings fand der zweite Wettkampf unter ungleichen Bedingungen statt.

Prinzipiell ungerecht war das Privileg des Weltmeisters auf einen Revanchewettkampf. Diese Regel führte dazu, dass der Herausforderer das Kandidatenturnier und zwei WM-Kämpfe gegen den amtierenden Weltmeister gewinnen musste, um den Titel endgültig zu erobern, während der amtierende Weltmeister nur einen von eventuell zwei Wettkämpfen gewinnen musste, um seinen Titel zu behalten oder zurückzuerobern.

Doch damit nicht genug. Als Tal 1961 zum Revanchewettkampf antrat, war er krank. Dazu schreibt André Schulz:

Vor Beginn des Wettkampfes war Botwinnik … in Streit mit Nikolai Romanow, dem Vorsitzenden des Sportkomitees geraten. Romanow hatte Botwinnik … mitgeteilt, dass Tal sich wegen einer Nierenkolik krankgemeldet hatte und möglicherweise eine Verlegung des Wettkampfes anstand. Botwinnik pochte jedoch auf ein ärztliches Attest, ausgestellt durch einen Moskauer Arzt. Tal hatte nur ein Attest eines lettischen Arztes vorgelegt. Er hätte also zur Untersuchung nach Moskau reisen müssen. Romanow hielt das zunächst für überflüssig. Schließlich forderte er es aber doch von Tal ein, welcher dann aber lieber dem fristgerechten Beginn des Wettkampfes zustimmte, weil er diese Prozedur als unwürdig betrachtete.

[Alexander] Koblenz [der Trainer von Tal] gab später zudem an, dass Tal zwei Wochen vor dem Wettkampf noch Opfer eines leichten Herzinfarktes gewesen sei. (André Schulz, Das große Buch der Schachweltmeisterschaften, New in Chess 2015, S. 150)

So begann der Wettkampf wie vorgesehen am 15. März 1961 in Moskau. Er endete am 12. Mai 1961 – Botwinnik hatte mit 13 zu 8 gewonnen und war damit alter und neuer Weltmeister.

Beide Vorwürfe stimmen: die Revanchewettkämpfe waren ungerecht und Tal war krank und von seiner Bestform weit entfernt. Und so war Botvinnik im Wettkampf tatsächlich der bessere Spieler und hat rein schachlich gesehen verdient gewonnen. Einmal mehr profitierte er dabei von seiner guten Vorbereitung. Dabei benutzte er, wenn man so will, das Strategem  „Der Tiger bleibt auf dem Berg“. Allerdings gibt es dieses Strategem in den 36 chinesischen Strategemen, einer Zusammenstellung von Strategien, um in allen Bereichen des Lebens Erfolg zu haben, gar nicht. Dafür empfiehlt Strategem Nummer 15 „Den Tiger vom Berg in die Ebene zu locken“, was nichts anderes meint, als den Gegner bei einem Kampf oder einem Konflikt auf unbekanntes Terrain zu locken oder den Kampf unter Umständen zu führen, die dem Gegner unangenehm sind. Beim Weltmeisterschaftskampf 1960 hatte Tal dieses Strategem bewusst oder unbewusst verfolgt, im Wettkampf 1961 drehte Botvinnik den Spieß um.

Tal gewann den Kampf 1960 unter anderem deshalb, weil es ihm immer wieder gelang, Stellungen herbeizuführen, in denen er seine Stärken ausspielen konnte. Das wollte Botvinnik beim Revanchekampf verhindern.

Auf den Revanchewettkampf gegen Tal habe ich mich sehr gut vorbereitet, obwohl ich damals bereits fünfzig war, und habe alle überrascht, auch Tal. … In unserem zweiten Match habe ich gezeigt, wie man gegen ihn spielt. Wenn Tals Figuren über das Brett hüpfen, dann war ihm niemand ebenbürtig, aber bei einer soliden Bauernstruktur im Zentrum war er positionell schwach, und deshalb musste er eingeschnürt werden, eingeschnürt. (Mikhail Botvinnik, Botvinnik – Tal, Return Match for the World Chess Championship, Moscow 1961, Edition Olms 2004, S. 12.)

Botvinnik strebte vor allem danach, Tal nicht zur Entfaltung seiner Stärken kommen zu lassen. Wenn man Botvinniks Ruf als strategisch-positioneller und Tals Ruf als taktischer Spieler bedenkt, dann könnte man meinen, Botvinnik hätte versucht, ruhige Stellungen anzustreben und taktische Komplikationen zu vermeiden. Aber so war es nicht: In einer ganzen Reihe von Partien des Wettkampfs scheute Botvinnik keine Komplikationen, sondern führte sie sogar herbei. Wichtig war ihm allerdings, dass er selbst die Initiative hatte und Tal nicht zur Entfaltung seines Spiels kam.

Typisch dafür ist die achte Partie des Wettkampfs:

Doch Botvinnik hatte nicht nur die Partien Tals gründlich studiert, sondern auch seine eigenen Fehler. So entwickelte er Strategien gegen sein Nachlassen in der fünften Stunde, das ihn im Wettkampf 1960 immer wieder zum Verhängnis geworden war. Botvinnik kümmerte sich um seine Fitness und spielte Trainingspartien gegen Semjon Furman, in denen er an seiner Schwäche in der fünften Stunde der Partie arbeitete. Außerdem hatte er ein Wundermittel entdeckt: Kaffee!

Als ich sehr jung war, konnte ich nicht verstehen, warum meine Gegner Kaffee tranken. Ich brauchte keinen Kaffee, um während einer Partie durchzuhalten. Damals habe ich Zitronenwasser getrunken, und das hat mir irgendwie geholfen. Aber trotzdem sind meine Ergebnisse schlechter geworden. Ich muss den Schachspielern der DDR dankbar sein, die mir [bei der Schacholympiade] in Leipzig [1960] beigebracht haben, während einer Partie Kaffee zu trinken. … Da habe ich bemerkt, dass ich die ganzen fünf Stunden durchhalten kann, wenn ich während einer Partie Kaffee trinke. (Mikhail Botvinnik, Botvinnik-Tal 1961, S. 119)

Tal hingegen scheint die Dinge zu leicht genommen zu haben. Zunächst glaubte er nach seinem Sieg im Wettkampf 1960 nicht, dass Botvinnik von seinem Recht auf einen Rückkampf Gebrauch machen würde. Außerdem scheint er generell zu selbstsicher gewesen zu sein. Dazu schreibt Tibor Karolyi:

Tals allzu großes Selbstvertrauen war ein entscheidender Faktor vor dem Wettkampf 1961, und es lohnt, sich die Faktoren anzuschauen, die dazu beigetragen haben. Zunächst einmal hatte er mehr erreicht, als irgendein Spieler in seinem Alter vor und er wurde von Fans vergöttert, nicht nur in seiner Heimat Lettland, sondern auf der ganzen Welt. (Tibor Karolyi, Mikhail Tal’s Best Games 2, 1960-1971, The World Champion, Quality Chess 2015, S. 67)


Mihail Tal

Aber den Hauptgrund für Tals Niederlage im Revanchematch sieht Karolyi in Tals mangelnder Vorbereitung:

Tal … bereitete sich überhaupt nicht vor. Außerdem fehlte ihm die Praxis gegen erstklassige Gegner; obwohl er in der zweiten Hälfte des Jahres 1960 hervorragende Ergebnisse erzielte, hatte er doch keine Gegner vom Niveau eines Keres, Petrosian, Spassky, Smyslov oder Korchnoi. … Außerdem hat Tal ein Buch über den Wettkampf 1960 geschrieben, etliche Simultanveranstaltungen absolviert und angefangen, stark zu rauchen, alles Dinge, die seiner Vorbereitung nicht nützlich waren. (Karolyi, S. 68)

Ein Indiz, dass Tals Vorbereitung tatsächlich schlecht war, ist sein katastrophales Ergebnis mit den schwarzen Steinen. Mit Weiß holte Tal 5,5 aus 10, mit Schwarz hingegen gerade einmal 2,5 aus 11. Und anders als ein Jahr zuvor, als Botvinnik immer wieder Probleme bekam, was ihn zu Fehlern provozierte, gelang es Tal im Wettkampf 1961 nur selten Botvinnik unter Druck zu setzen. Tal wirkte nur noch wie ein Schatten seiner selbst.

Natürlich ist es müßig, darüber zu spekulieren, wie der Wettkampf ausgegangen wäre, wenn Tal ausreichend vorbereitet und gesund gewesen wäre, aber vermutlich hätte Botvinnik dann Probleme gehabt, den Weltmeistertitel zurück zu erobern.

Wie auch immer – nach ihrem Wettkampf 1961 trafen Tal und Botvinnik noch zwei Mal aufeinander, bei den Sowjetischen Mannschaftsmeisterschaften 1964 und 1965. Die erste dieser beiden Partien endete Remis, in der zweiten konnte Tal gewinnen.

Dies war die letzte Partie, die Botvinnik und Tal je gegeneinander gespielt haben.

Siehe auch:

Strategeme

Mikhail Botvinnik

 

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2 Gedanken zu “Der Tiger bleibt auf dem Berg: Der Weltmeisterschaftskampf 1961 zwischen Mihail Tal und Mikhail Botvinnik

    1. Johannes Fischer Artikel Autor

      Hallo, vielen Dank für den Hinweis. Ich vermute, das Problem lag an der Umstellung – oder, besser gesagt, dem Versuch der Umstellung – auf einen neuen WordPress Editor. Der ist zur Zeit anscheinend nicht in der Lage Partien darzustellen. Ich bin zum alten Editor zurückgekeht, jetzt müssten die Partien auch wieder zu sehen sein.

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