Ein deutsches Bücherregal: Jörg Magenaus „Bestseller“

Bücherregale verraten viel über ihre Besitzer. Über ihre Interessen, Vorlieben, Leidenschaften, Ängste, Sorgen, über Wünsche und Träume, die sie hatten oder haben. In seinem Buch Bestseller hat Jörg Magenau nun ein deutsches Bücherregal zusammengestellt und sich angeschaut, welche Bücher die Deutschen in den letzten 70 Jahren besonders gerne gelesen haben – deutsche Bestseller, Bücher, die sich von 1945 bis 2017 in Deutschland besonders gut verkauft haben.

Dabei ist Magenaus Auswahl, wie er schreibt,

ganz und gar subjektiv. … Doch Subjektivität ist keine Beliebigkeit. … Es gibt Millionenseller, die spurlos im Vergessen versunken sind, und andere, nicht so exorbitant gut verkaufte Bücher, die aber heftige Debatten auslösten. … Die hier vorliegende Geschichte konzentriert sich auf Bestseller, die idealerweise beides verbinden: Hohe Auflagen und Aufmerksamkeit mit einer spürbaren Wirkungsgeschichte. … Entscheidend war in jedem Fall: Es mussten Bücher sein, die mich interessieren, die mir mehr bedeuten als nur das Abarbeiten einer Liste oder das Abtasten einer historischen Stimmungskurve. … Es geht mir um Bücher, an denen sich zeigen lässt, was Lesen überhaupt ist, was dabei geschieht und welche Bedürfnisse es befriedigt. … Es sind Bücher, die wie alle Bestseller aus ihrer Zeit heraus zu begreifen sind, die aber daneben, dahinter, darüber hinaus auch vollkommen zeitlose Strukturen erkennen lassen. … Wir sind enthalten in den Büchern, die wir liebten, und die Bücher sind ein Teil von uns. Das gilt für uns als Individuen genauso wie für die kollektive Geschichte der Bundesrepublik. Im Phänomen der Bestseller fällt beides zusammen. (S. 11-13)

Am Anfang dieses deutschen Bücherregals – oben links, wenn man so will – steht Theodor Plieviers 1945 erschienenes Buch Stalingrad, ganz rechts beendet Daniel Kehlmanns 2017 erschienene Eulenspiegel-Geschichte Tyll die Auswahl.


Theodor Plievier, Stalingrad


Daniel Kehlmann, Tyll

Das von Magenau zusammengestellte Bücherregal enthält eine eine bunte Mischung diverses Genres, Stil- und Geschmacksrichtungen. Da steht Eugen Kogons Der SS-Staat neben Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, dem Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! zuruft. 1955 preist Hans Niklisch Vater, unser bestes Stück, 1987 schildert Robin Norwood was passiert, Wenn Frauen zu sehr lieben und sieben Jahre später, 1994, behauptet Ute Ehrhardt Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin. Allein vier Bücher beschäftigen sich mit dem wenig erfreulichen Leben und Wirken von Adolf Hitler. Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Albert Speer und Marcel Reich-Ranicki präsentieren Autobiographien und Charlotte Roche (Feuchtgebiete) und E.L. James (Shades of Grey) sorgen für Erotik. Es gibt Sachbücher wie Herbert Gruhls Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik aus dem Jahre 1976 und die als Sachbücher getarnten Phantastereien Erich von Dänikens. Und natürlich jede Menge Romane, ernst und heiter, anspruchsvoll und weniger anspruchsvoll, umfangreich und weniger umfangreich.

Über die Bücher in diesem virtuellen Bücherregel plaudert Magenau mit charmanter, unaufdringlicher, unterhaltsamer Gelehrsamkeit. Er erzählt Geschichten über Bücher und Autoren, liefert kurze, knappe Interpretationen einzelner Werke, stellt die Bücher in den geschichtlichen Kontext ihrer Entstehungszeit und zeigt so, wie sich die Themen und Interessen der Deutschen im Laufe der Zeit verändern.

Viel Raum im Buch nehmen auch Magenaus Betrachtungen über das Lesen als solches ein. So zitiert er im Kapitel „Liebesverhältnisse“ gleich zu Anfang Ulrich Raulf, der gefragt hat, „Wer sind wir, wenn wir lesen? Was passiert mit uns, wenn wir langsam, noch zögernd, in die erste Zeile gleiten, welcher Film läuft ab, wenn wir kopfüber in den Text stürzen?“ (S. 27) In seinen vielen Antworten auf diese Frage zeigt sich Magenau als begeisterter Leser, der an die aufklärerische Kraft von Büchern glaubt. So schreibt er zum Schluss seines Buches: „Die Bücher, die wir liebten, liebten auch uns. Sie haben aus uns bessere Menschen gemacht. Sie können nicht anders, weil Leser bessere Menschen sind. Als Leser sind wir bescheiden. Als Leser hören wir zu. Als Leser erproben wir andere Sichtweisen als immer bloß die eigene. So lernen wir verstehen und erweitern unseren Horizont. Lesen ist eine demokratische Tugend. Es ist kein Zufall, dass Diktatoren Bücher mehr fürchten als jede feindliche Armee. Weil zu den Büchern ja auch Leser gehören und Leser sich dem Einfluss der Macht entziehen.“ (S. 262)

Wer selber gerne Bücher liest, der hört solche Lobeshymnen auf die eigene Leidenschaft natürlich gerne. Allerdings schießt Magenau in seiner Begeisterung für das Lesen gelegentlich über das Ziel hinaus. So schreibt er: „Wir beginnen im Lesen ein Spiel aus Berührung und Zurückweichen, aus Anteilnahme und Distanz, aus Faszination und Erschrecken. Gelingende Lektüre ist ein lustvoller Vorgang, ein erotischer Verschmelzungsakt.“ (S. 28) Bei aller Leidenschaft für das Lesen ist das doch ein Vergleich, über dessen Implikationen ich angesichts der Tatsache, dass ich gerne Bibliotheken besuche und gerne an öffentlichen Orten lese, nicht wirklich nachdenken möchte, umso weniger, wenn es um das Thema „Bestseller“ geht.

Doch auch wenn man im Lesen nicht unbedingt „einen erotischen Verschmelzungsakt“ sieht, so bleiben die Fragen interessant, warum Menschen gerne lesen, warum Lesen eine Leidenschaft sein kann, was beim Lesen passiert, beim einzelnen Leser, bei der einzelnen Leserin, und beim Phänomen Bestseller auch gesellschaftlich. Dazu schreibt Magenau: „Jedes Buch trifft nicht bloß auf seine Leser, sondern auch auf einen besonderen Augenblick, in dem sich all unsere Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste, Wissens- und Unterhaltungsbedürfnisse bündeln – oder auch unsere Sensationsgier, unser Voyeurismus und unsere Niedertracht. In all diesen disparaten Erwartungen und Haltungen überschneiden sich langfristige, vielleicht einigermaßen erahnbare Entwicklungslinien kollektiver Befindlichkeit mit nur schwer voraussehbaren Tagesaktualitäten, saisonalen Stimmungen und politischen Konjunkturen, die durch die Medien täglich neu befeuert werden. … Bestseller sind eine Folge dieser Wirkungen, wirken zugleich aber auch als Verstärker darauf zurück. So lassen sie, was bis dahin verborgen blieb, hervortreten.“ (S.36)

So schreiben die deutschen Bestseller nicht nur Literaturgeschichte, sondern auch eine Geschichte der Mentalität Deutschlands nach 1945. Davon erzählt Magenau kenntnisreich und leidenschaftlich und das macht Bestseller anregend und informativ, aber vor allem zu einem großen Lesevergnügen.


Jörg Magenau, Bestseller: Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten
Hoffmann und Campe 2018, 22,00 Euro

Über Jörg Magenau macht sein Verlag folgende Angaben:

Jörg Magenau studierte in Berlin Philosophie und Germanistik. Er gehörte zu den Gründern der Wochenzeitung Freitag, deren Literaturredakteur er bis 1996 war. Er arbeitete für die taz, die FAZ und ist seit 2002 freier Autor, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und Deutschlandfunk Kultur. Nach umfassenden Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und über Ernst und Friedrich Georg Jünger erschienen von ihm zuletzt Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47 und bei Hoffmann und Campe Schmidt–Lenz. Geschichte einer Freundschaft (2014).

Siehe auch

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