Mehr als Sport: David Foster Wallace über Roger Federer

Am 29. Januar 2017 besiegte Tennisprofi Roger Federer im Finale der Australian Open in Melbourne seinen langjährigen Rivalen Rafael Nadal in einem dramatischen Fünf-Satz-Match und gewann seinen achtzehnten Grand Slam Titel, mehr als jeder andere Spieler vor ihm. Dennoch war Federers Sieg eine Sensation. Vor den Australian Open hatte der Schweizer wegen einer Knieverletzung ein halbes Jahr lang kein Turnier gespielt und mit 35 Jahren ist er für einen Tennisspieler bereits alt. Um dieses sensationelle Comeback zu beschreiben, zitierten Journalisten oft und gerne US-Autor David Foster Wallace, der am 20. August 2006 in der New York Times einen langen Artikel über Roger Federer veröffentlicht hatte. Der Titel dieses Essays war kurz, provokant und einprägsam. Er lautete: „Roger Federer as Religious Experience“.

Anlass des Essays war das Wimbledon-Finale zwischen Federer und Nadal am 9. Juli 2006, das Federer in vier Sätzen gewann. Gleich zu Beginn prägt Wallace, der als Jugendlicher selbst erfolgreich Tennis gespielt hat, den Begriff der „Federer-Momente“: „Fast jeder, der Tennis liebt und die Herrentour im Fernsehen verfolgt, hat in den letzten Jahren schon einmal etwas erlebt, das man Federer-Momente nennen könnte. … Die Momente sind intensiver, wenn man genug Tennis gespielt hat, um die Unmöglichkeit dessen zu verstehen, was man ihn gerade hat machen sehen.“

Aber Wallace geht noch weiter. Er behauptet, den „jungen Schweizer“ live spielen zu sehen, käme einer „religiösen Erfahrung“ gleich. Das ist weder ein Scherz noch ein Bonmot –Wallace meint es ernst, und um seine Behauptung zu untermauern, analysiert er das Phänomen Federer in aller Ausführlichkeit: er beschreibt einzelne Ballwechsel Punkt für Punkt, macht einen Ausflug in die Tennisgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte Wimbledons im Besonderen, analysiert, wie technische Entwicklungen und moderne Schläger das Spiel verändert haben, liefert Statistiken über bestimmte Schläge, berechnet die Geschwindigkeit des Balles beim Aufschlag und die Reaktionszeit, die den Spielern für einen Return verbleiben, erläutert die Vor- und Nachteile von Übertragungstechniken im Fernsehen und verrät, warum gute Spieler viel trainieren und viel trainieren müssen.

Doch am Ende kommt Wallace zu dem Schluss, Federers Spiel lasse sich letztlich nicht erklären, weil es von übernatürlicher Schönheit sei:

„Die Schönheit eines Spitzenathleten lässt sich beinahe unmöglich direkt beschreiben. Oder heraufbeschwören. Federers Vorhand ist ein phantastisch flüssiger Peitschenschlag, seine Rückhand ist einhändig und er kann sie flach spielen, ihr Topspin oder Slice verleihen … Sein Aufschlag hat die Schnelligkeit der Weltklasse, doch einen Grad von Genauigkeit und Variabilität, den niemand sonst auch nur annähernd erreicht; … Seine Antizipation und sein Gefühl für den Court sind nicht von dieser Welt und seine Beinarbeit ist die beste im Tennis …. All das ist wahr, aber trotzdem erklärt oder vermittelt nichts davon das Erlebnis, diesen Mann spielen zu sehen. Die Schönheit und das Genie seines Spiels direkt zu erleben.“


Roger Federer (Foto: Wikipedia)

Dieses Erleben einer Schönheit, die sich nicht erklären lässt, ist die im Titel des Essays angesprochene „religiöse Erfahrung“. Auch an anderer Stelle betont Wallace das Metaphysische, das Göttliche, von Federers Spiel:

„Es gibt drei Arten möglicher Erklärungen für Federers Aufstieg. Eine berührt Mysterien und Metaphysik und kommt meiner Meinung nach der Wahrheit am nächsten. Die anderen sind technischer und führen zu besserem Journalismus. Die metaphysische Erklärung lautet, dass Roger Federer einer dieser seltenen, übernatürlichen Athleten ist, für die, zumindest teilweise, bestimmte physikalische Gesetze nicht gelten.“

Am Ende seines Essays spricht Wallace darüber, wie Federer das moderne Tennis, die nachfolgende Generation von Tennisspielern und seine Fans inspiriert hat: „Genie ist nicht reproduzierbar. Inspiration ist jedoch ansteckend und nimmt viele Formen an – und einfach nur zu sehen, ganz nah, wie Kraft und Aggression für Schönheit anfällig werden, bedeutet sich inspiriert und (auf eine flüchtige, sterbliche Weise) versöhnt zu fühlen.“

Dieses Ende verweist noch einmal auf ein Thema, das den ganzen Essay durchzieht: die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Frage ist religiös und spirituell, aber Wallace sucht eine Antwort im Sport – und das verblüfft und provoziert. Denn so schön Federers Spiel auch sein mag, so wird Tennis gemeinhin nicht als Religion begriffen, sondern als Spiel und Spektakel und damit als mehr oder weniger triviale Unterhaltung. Außerdem geht es im modernen Tennis ganz weltlich um sehr viel Geld. So hat Federer laut Wikipedia im Laufe seiner Karriere bereits über 100 Millionen US-Dollar an Preisgeldern gewonnen.

Die Spannung und das Verhältnis von Unterhaltung, Zerstreuung und der Suche nach Sinn taucht im Werk von Wallace immer wieder auf und ist ein zentrales Motiv in seinem Hauptwerk Unendlicher Spaß und in zahlreichen seiner Essays. Wallace’ obsessiv detaillierte Schilderungen und die endlosen Exkurse, in denen er die diversen Aspekte seiner Themen immer und immer weiter differenziert, wirken dabei wie der Versuch eines überragenden Intellekts, die Phänomene der Welt erklären und verstehen zu wollen – und daran zu scheitern. Die religiöse Erfahrung von Erlösung und innerem Frieden bietet nur der Verzicht auf Erklärungen und die Hingabe an den Genuss einfach schöner Momente. Dass es Wallace gelingt, dieses spirituelle Konzept in einem Artikel über Sport und in der Betrachtung des Spiels eines Sportlers zu illustrieren, zeigt seine schriftstellerische Brillanz und macht „Roger Federer as Religious Experience“ zu weit mehr als einer virtuos geschriebenen Sportreportage.

 Siehe auch

Roger Federer as Religious Experience bei der New York Times

Der Spiegel veröffentlichte am 6. November 2006 eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Übersetzung des Wallace-Aufsatzes. Leider überstand der Titel diese Reise nach Deutschland nicht unbeschadet und wurde zu „Poesie in Bewegung“.

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Wikipedia-Eintrag zu David Foster Wallace

Federer-Momente bei YouTube

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