Schachbegeisterung: „The Most Instructive Games of Chess“

most_instructive_teaserBegeisterung weckt oft Verdacht. Wer zu enthusiastisch ist, gilt leicht als oberflächlich, naiv, als unwillig oder unfähig zu kritischer Reflektion. Wer kritisiert, so glauben viele, beweist hingegen Kompetenz und einen wachen Geist, der sich nichts vormachen lässt. Schließlich weiß der Kritiker nicht nur etwas, er weiß es sogar besser. Ein besonders enthusiastischer Schachautor war der US-Amerikaner Irving Chernev. Er veröffentlichte im Laufe seines Lebens 20 Schachbücher, viele gelten mittlerweile als Klassiker. Lesenswert und unterhaltsam sind sie auch heute noch.

Der amerikanische Autor Arnold Denker, US-Meister 1944 und 1946, schreibt über Chernev: „Ich werde nie vergessen, wie Irving zu strahlen anfing, wenn er Stellungen vorführte. Nach Schachschätzen zu suchen und diese Schmuckstücke mit Spielern zu teilen, die sie würdigten, war wahrscheinlich seine größte Freude im Leben. … Ich erinnere mich, wie er mit seinen kleinen schwarzen Notizbüchern in den Manhattan Chess Club kam – gleich fünf davon! Eins für Partien, eins für gute Geschichten, eins für interessante Schachfakten, eins für Endspielstudien und eins für Probleme.“ (Arnold Denker, The Bobby Fischer I knew…, S. 306-309.)

Chernevs Fundstücke wurden irgendwann zu Büchern. Ein Chernev-Klassiker, der viele für das Schach begeistert hat, ist The Most Instructive Games of Chess Ever Played. Das Buch erschien zuerst 1965 im New Yorker Verlag Simon and Schuster, mit originellem und schönem Cover und in beschreibender Notation (Spanisch sieht dann so aus: 1.PK4 PK5 2.NKB3 NQB6 3.BN5). Vor kurzem brachte Batsford den Klassiker neu heraus, in algebraischer Notation, aber mit weniger schönem Cover.

Im Buch präsentiert der Schachenthusiast 62 „Strategic Masterpieces“, die älteste Partie stammt aus dem Jahre 1873 (Rosenthal – Steinitz), die jüngste aus dem Jahre 1961 (Petrosian – Smyslow). Schon 1965, als das Buch zum ersten Mal erschien, war der mit Superlativen nicht geizige Titel ziemlich optimistisch, heute, zwei oder mehr Schachgenerationen später, ist er es umso mehr. Aber das Buch bleibt eine Fundgrube an lehrreichen Partien, von denen eine schöner als die andere ist.

Dabei hat Chernev keine taktischen Kabinettstückchen oder eine Auswahl der schönsten Angriffspartien der Schachgeschichte gesammelt, sondern Partien, in denen strategische Motive wie Vorposten, Freibauern, Bauernmehrheiten, starke und schwache Felder und vieles mehr wichtig sind. Diese Partien präsentiert Chernev voller Begeisterung und ganz und gar unkritisch. Das vereinfacht, aber betont Schönheit und Harmonie der Partien. In einem informativen Artikel über Chernev zitiert Schachhistoriker Edward Winter den englischen Großmeister John Nunn, der verrät, wie das Buch auf ihn gewirkt hat: „Als junger Spieler habe ich The Most Instructive Games of Chess Ever Played von Irving Chernev gelesen, das Schach extrem leicht aussehen ließ. Aber dann las ich Alekhine’s Best Games of Chess, das Schach unerhört schwer aussehen ließ. Ich stellte schließlich fest, dass die Wahrheit irgendwo zwischen den beiden liegt.“ (New in Chess, 3/2002, S.98, zitiert in Edward Winter, Irving Chernev).

John Nunn 1982
John Nunn 1982 (Foto: Anefo / Croes, R.C. [CC BY-SA 3.0 nl (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)], via Wikimedia Commons)

Chernev bewertet grundsätzlich wohlwollend. Er kennt starke („!“) oder sehr starke („!!“) Züge, aber interessante („!?“), fragwürdige („?!“) oder gar schlechte („?“) Züge gibt es bei ihm nicht. Das wirkt, als glaube Chernev, gute Spieler würden nur gute Züge machen, der Sieger der jeweiligen Partie aber eben nur ein paar mehr. Auch nach den kritischen Momenten der Partie oder den entscheidenden Fehlern des Verlierers sucht Chernev nicht. Er erklärt den Verlauf der Partie, aber kritisiert ihn nicht. Auch das vereinfacht, aber weckt Begeisterung und erleichtert das Verständnis. Wie so oft steckt auch hier hinter scheinbarer Leichtigkeit viel Arbeit. Dazu noch einmal Edward Winter:

„Der detaillierteste Artikel über [Chernev] ist ‘An Invitation to Chernev’ von Jerome Tarshis, der auf den Seiten 500 bis 503 von Chess Life & Review, September 1979 erschien. Ein paar Erinnerungen [Chernevs], die auf Seite 501 zitiert werden:

‘Als ich Logical Chess, Move by Move geschrieben habe – und das gilt auch für The Most Instructive Games of Chess Ever Played – habe ich Hunderte und Hunderte von Partien durchgesehen, die überwiegend positionellen Charakter hatten. Ich wollte zeigen können, dass das positionelle Spiel wichtiger war, und dass die Kombinationen von alleine kamen.

Es war nicht leicht, die Partien auszuwählen. In vielen ausgezeichneten Partien gibt es eine ganze Reihe von Zügen, die nicht unbedingt ohne Bedeutung sind, aber die man einem durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Spieler doch schwer erklären kann. Und es reichte mir nicht, eine gute Partie zu finden, in der das Läuferpaar besser ist als die zwei Springer. Ich wollte das allerbeste Beispiel finden.’

Die glatten Kommentare verleiten leicht zu der Annahme, Chernev sei kein besonders starker Spieler gewesen – denn dann hätte er ja gesehen, dass die Dinge nicht immer so einfach sind. Doch diese Einschätzung ist ungerecht. Chernev war kein Großmeister, aber ein starker Amateur, der sich 1942 und 1944 für die US-Meisterschaft qualifizieren konnte.

Doch Chernev war vor allem Schachliebhaber. „Ich habe in … Turnieren gespielt, um zu sehen, wie ich gegen einige der besten Spieler des Landes abschneiden würde. Aber ich wollte Schach nicht nur spielen, sondern auch genießen und in diesen Turnieren zu spielen war kein Schach zum genießen“, zitiert Denker Chernev (The Bobby Fischer I knew…, S.306).

In seinen Kommentaren wollte Chernev Schach genießen und betonte deshalb die Schönheit des Spiels. Natürlich kann man diesen Ansatz kritisieren, weil er nicht nach schachlicher Wahrheit sucht und die Partien oft allzu einseitig darstellt. Aber dafür wirkt Chernevs Schwung ansteckend und weckt Begeisterung für das Schach.

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Irving Chernev, The Most Instructive Game of Chess Ever Played

Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.

Die folgende Partie versah Chernev mit der Überschrift „Die Musketiere des Königs werden losgeschickt“. Befehlshaber der Musketiere war Verteidigungskünstler Tigran Petrosian, der hier einen schönen Angriff inszeniert. Die Kommentare Chernevs und viele seiner Varianten habe ich dabei gekürzt.

Siehe auch:

P. H. Clarke über Tigran Petrosian

Irving Chernev in der englischen Wikipedia

Edward Winter, Irving Chernev

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