Koan im Krimi: Robert van Guliks „Der geschenkte Tag“

cover_der_geschenkte_tagRobert van Gulik, geboren am 9. August 1910 in Zutphen, Holland, gestorben am 24. September 1967 in Den Haag, war ein Mann mit vielen Talenten: Er arbeitete als Diplomat in Japan, Ägypten, China, den USA sowie Malaysia und sprach unter anderem Chinesisch, Englisch, Französisch, Japanisch und Russisch. Außerdem veröffentlichte er ein Wörterbuch der Sprache der Blackfoot-Indianer sowie wissenschaftliche Werke über Gibbonaffen, die chinesische Laute und das Sexualverhalten im alten China. Berühmt wurde er jedoch durch seine Kriminalromane um Richter Di aus dem alten China. Einmal unternahm van Gulik jedoch auch einen Krimiausflug in das Amsterdam der  60er Jahre. Heraus kam dabei Der geschenkte Tag, ein faszinierender Kriminalroman mit ungewöhnlichen Themen.

Hauptfigur ist der Ich-Erzähler Hendriks, ein ehemaliger Kolonialbeamter, der nach seiner Rückkehr aus Java als Kaufhausbuchhalter in Amsterdam lebt. Hendriks hat in den Kolonien seine erste und seine zweite Ehefrau sowie seine Tochter verloren und geriet durch eine Verwechslung für drei Jahre in japanische Gefangenschaft.

Nach Ende des Krieges kehrte er nach Amsterdam zurück, wo er einsam, verbittert und traumatisiert lebt. Vor allem die Erinnerung an Hauptmann Uyeda, der ihn während der Gefangenschaft immer wieder gefoltert und verhört hatte, lässt ihn nicht los. Dabei wurde Uyeda nach der Niederlage der Japaner im Zweiten Weltkrieg als Kriegsverbrecher hingerichtet. Doch „Hauptmann Uyeda ist immer noch da, irgendwo tief in mir. Mein Geist ist für immer von seinem brennend heißen Eisen, von seiner beißenden Peitsche gekennzeichnet. Ich legte ihm die Schlinge um den Hals und ließ ihn hängen, bis der Tod eintrat. Aber ich konnte ihn nicht töten.“

Vor dem Krieg lebte Uyeda in einem Zen-Kloster. „Er hatte zufriedenstellende Fortschritte gemacht, aber der Meister schickte ihn fort, weil Uyeda das letzte ihm aufgegebene Rätsel nicht lösen konnte: ‚Der Schnee schmilzt auf dem Gipfel des Fudschijama.’“

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Schnee auf dem Fudschijama (Foto: Wikipedia, „Kodaki fuji frm shojinko“ von 名古屋太郎 – 投稿者が撮影。)

Dieses Rätsel, dieses Koan, gibt Uyeda kurz vor seinem Tod an Hendriks weiter: „Als ich ihm die Schlinge um den Hals gelegt habe, sind Uyedas letzte Worte: ‚Bitte prüfen Sie nach, was ich Ihnen über Zen zu erzählen pflegte.’“

Koans dienen im Zen-Buddhismus der spirituellen Schulung. Es sind kurze, oft paradoxe (der Schnee auf dem Fudschijama schmilzt nie) und auf den ersten Blick unverständliche Sätze, Erzählungen oder Aussprüche, die von alten Zen-Meistern überliefert worden sind. Berühmte Zen-Koans sind zum Beispiel die Frage nach dem „Laut des Klatschens einer Hand“ oder das Mu-Koan des Zen-Meisters Joshu:

„Ein Mönch fragte einmal Joshu:
‚Hat ein Hund Buddha-Natur?’
Joshu antwortete: ‚Mu!’“.
(Albert Low, Wo bist du, wenn ein Vogel singt?, Theseus 1997, S. 41)

Zen-Schüler bekommen Koans von ihrem Zen-Meister und müssen im direkten Gespräch eine Antwort auf diese paradoxen Fragen geben. Das gelingt ihnen, so die Theorie, nur mit einem klaren Geist, der wiederum, so die Theorie, durch intensive Meditationspraxis erlangt werden kann.

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Bodhidharma, der Legende zufolge der erste Zen-Patriarch (Bild: Yoshitoshi 1887, Quelle: Wikipedia)

Hauptmann Uyeda konnte sein letztes Koan nicht lösen und für Hendriks symbolisiert die paradoxe Frage nach dem „Schnee, der auf Gipfel des Fudschijama schmilzt“, seine Einsamkeit, sein Trauma, seine Depression und sein Gefühl, nach dem Erlebnis der Folter in der Welt nicht mehr heimisch werden zu können.

Doch Hendriks’ gleichförmiges Leben ändert sich an einem 29. Februar, einem „geschenkten Tag“, an dem er zufällig Zeuge eines Überfalls auf eine junge Frau – Eveline – wird. Er greift ein, hilft der Frau und stört dabei die Kreise einer Verbrecherbande. Im weiteren Verlauf des Romans geht es darum, ob er den Verbrechern das Handwerk legen und ob er Eveline retten kann. Und natürlich um die Frage, ob Hendriks inneren Frieden und eine Antwort auf das Koan findet, das Hauptmann Uyeda nicht lösen konnte.

Ein kühnes Thema. Und anders als in den gefälligen Romanen um den chinesischen Richter Di, in denen die „Guten“ zuverlässig gut und die „Bösen“ ebenso zuverlässig böse sind, tauchen im „Geschenkten Tag“ immer wieder ambivalente Charakter auf: der Zen-Schüler Uyeda, der Erleuchtung sucht und zum gefühllosen Folterknecht wird, Hendriks, der seine erste Ehefrau betrogen hat und glaubt, am Tod seiner zweiten Ehefrau Schuld zu sein; die weibliche Hauptfigur Eveline, der Hendriks helfen will, doch die sich als drogensüchtige Prostituierte herausstellt.

Vielleicht war das zu viel Ambivalenz für einen Krimi aus dem Jahre 1964. In seiner lesenwerten Biographie Robert van Gulik: Ein Leben mit Richter Di schildert der holländische Kriminalautor Jan Willem van de Wetering, der ein großer Bewunderer van Guliks war, das Schicksal des Geschenkten Tags: „Die niederländische Version … wurde sofort verramscht. Eine (von van Gulik selbst angefertigte) englische Übersetzung wurde privat in Malaysia veröffentlicht und nie verkauft, die meisten Exemplare gingen verloren. … Die erste US-Ausgabe (1984) erschien in einer Auflage von nur dreihundert Stück.“ Abschließend schreibt Van de Wetering: „Die Taschenbuchausgabe (1986) wird hoffentlich einen größeren Leserkreis erreichen.“ (Janwillem van de Wetering, Robert van Gulik: Ein Leben mit Richter Di, Zürich: Diogenes Taschenbuch 1992, S. 103)

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Van de Wetering führt die ablehnende Haltung der Rezensenten unter anderem auf ihr mangelndes Verständnis für Zen zurück. Van de Wetering hingegen wusste, worüber er da sprach. Er hatte sich sich im Laufe seines Lebens ausführlich mit Zen beschäftigt und eine Zeitlang in japanischen und amerikanischen Zen-Klöstern gelebt. Seine spirituellen Erfahrungen schildert er in den Büchern Der leere Spiegel, Ein Blick ins Nichts und reine leere: Erfahrungen eines respektlosen Zen-Schülers.

Der geschenkte Tag erreichte später zwar tatsächlich einen „größeren Leserkreis“, aber war nie so populär wie die Richter Di-Romane, die Millionenauflagen erzielten. So haftet dem Buch immer noch die Aura eines Geheimtipps an. Geheimtipp oder nicht: trotz streckenweise altmodischer Sprache und nicht immer geradliniger Handlung bleibt Der geschenkte Tag ein eigenwilliger, faszinierender und lesenswerter Roman.

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